Julius Blum GmbH : „Wir gehen an die Grenzen der technologischen Möglichkeiten“
Herr Eberle, in Ihrem Kollegium macht oft der Spruch „Einmal Blümler, immer Blümler“ die Runde. Wie war Ihr persönlicher Einstieg bei Blum?
Ich bin untypisch für einen Blümler, weil ich erst mit 42 Jahren in diese Firma gekommen bin. Davor habe ich fast 20 Jahre Erfahrung als Produktions- und Fertigungstechnik-Spezialist in einer anderen Branche gesammelt. Beim Umstieg von einem hochflexiblen Mittelserienfertiger zu einem Massenfertiger musste ich doch einiges dazulernen.
Welche spezifischen Prozesse bringt eine Massenproduktion mit sich?
Ein Spezifikum ist der Aufwand, den wir in die Qualitätssicherung stecken. Die Qualität der Produkte ist in jedem Unternehmen wichtig, aber was wir hier an hochkomplexen und sehr teuren Prüfeinrichtungen mitten in der Fertigung stehen haben, ist schon besonders. Verdeckte Mängel an Produkten würden einen enormen Aufwand bei Reklamationsbehebungen verursachen. Durch die große Menge an Produkten, mit denen wir unsere Kunden regelmäßig versorgen, wäre ein erst Monate nach der Auslieferung entdeckter Fehler für alle Beteiligten fatal.
Massenproduktion heißt auch Standardisierung und gleichzeitig weniger Flexibilität. Wo können Sie sich denn da verwirklichen?
Die Vielfalt an Technologien, die Teil des Unternehmens sind, ist untypisch für einen Massenfertiger. Wir sind in diesem Bereich nicht mit der Automobilindustrie vergleichbar, die für jede Komponente Spezialisten hat, die separat zuliefern. Die brauchen ein hervorragendes logistisches System, damit später alles am Band zusammenfließt. Wir sind in einem sehr kostenkritischen Produkt tätig. Wir gehen zum Teil so an die Grenzen der technologischen Möglichkeiten, dass wir auch mehrfach investieren, um das Maximale an Effizienz herauszuholen. Hier geht es um Zehntel oder Hundertstel Cent, die wir durch Optimierung an Produkten und Prozessen generieren. Um diese technologischen Grenzen gut zu kennen, leisten wir uns eine sehr hohe Fertigungstiefe.
Als Massenfertiger beschäftigen wir uns seit Jahrzehnten mit Automatisierung.
Was sind Ihrer Meinung nach Ihre spannendsten Automatisierungsprojekte?
Spannend liegt im Auge des Betrachters. Als Massenfertiger beschäftigen wir uns seit Jahrzehnten mit Automatisierung. Zuerst haben wir den Montageprozess automatisiert, indem wir einfache Fügeprozesse wie Schrauben, Nieten und Schweißen mit Pick-and-Place-Anwendungen ersetzt haben. Dabei haben wir auf möglichst kurze Wege, höchste Geschwindigkeit und effiziente Achsen geachtet. Jede Achse macht genau eine Bewegung. Und mit zunehmendem Vorantreiben des Montageprozesses wurden die Mitarbeitenden, die diese Teile zuführen mussten, zum eigentlichen Flaschenhals. Daher begannen wir, dieses Zuführen zu automatisieren. Das hat den Bauraum, den Platzbedarf der Anlagen zum Teil vervierfacht.
Wie kann ich mir diese Anlagen vorstellen?
Wenn Sie ein kleines Scharnier ansehen, werden Sie vielleicht überrascht sein, dass die Anlage, in der es gefertigt wurde, 80 Quadratmeter groß ist. Denn es wird ja jedes einzelne Teil automatisiert zugeführt. Aber die Automatisierung hat hier nicht aufgehört.
Finden bei Ihnen auch fahrerlose Transportsysteme Anwendung?
Ja, FTF betreiben wir seit dem Jahr 2000, da sind wir mittlerweile in den nächsten Generationen angelangt. Die Transportsysteme sind dort im Einsatz, wo wir mit hohen Volumenströmen zu tun haben. Die meisten FTFs betreiben wir im Werk 4, wo wir Führungssysteme und Boxen herstellen. Dort bewegen wir in einem einzigen Stockwerk mit 14 solcher Fahrzeuge etwa 4.000 bis 5.000 Paletten vollautomatisch – und zwar jeden Tag.
Welcher Fertigungsschritt ist besonders herausfordernd für die Automatisierung?
Für uns sind die Schmierprozesse besonders wesentlich, um damit die Lebensdauer unserer Produkte zu optimieren. Schmiermittel wie Öle und Fette sind für das automatische Handling aber nicht gerade angenehm. Das sind kompressible, viskose Medien, deren Verhalten von Temperatur, Druck, Blasenbildung oder Ausgasungen beeinflusst wird. Für die Qualität der Produkte ist es ganz wesentlich, dass wir an den richtigen Stellen die benötigte Menge des Schmiermittels aufbringen. Aber auch hinter unserer Dämpfertechnologie, der sogenannten BLUMOTION, stecken herausfordernde Prozesse. Hier befüllen wir Dämpfeinheiten mit viskosen Medien – und das in einer exakten, sehr engen Prozessführung. Das könnten wir ohne Automatisierung gar nicht so umsetzen. Von außen sieht man nicht viel, aber im Dämpfer steckt wirklich Know-how.
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Man muss sich unsere Montageanlagen vorstellen wie ein Legospiel.
Können Sie einen Bereich nennen, wo Sie sich aktuell um Optimierung bemühen?
Verpackung ist jener Bereich, wo wir kundenspezifisch immer höhere Flexibilität geboten haben. Das Verpacken ist aber, wenn Sie in kurze Zyklen gehen, eine extreme Belastung für die Mitarbeitenden. Daher arbeiten wir daran, auch hier die Prozesse immer stärker zu automatisieren. Aktuell arbeiten wir mit einem strategischen Partner daran, unsere Verpackungskonzepte als eine Art Baukastensystem umzusetzen, wie wir es auch bei anderen Anlagen haben.
Wie funktioniert dieses Baukastensystem?
Ich erkläre es gern so: Man muss sich unsere Montageanlagen vorstellen wie ein Legospiel. Wir haben Standardklötze und auch ein paar Spezialklötze – und die stecken wir zusammen. Wenn wir später etwas ergänzen möchten, können wir diese Klötze lösen, ein Stück dazwischen einbauen – und die Anlage funktioniert weiter. So fällt es unseren Mitarbeitenden leicht, zwischen verschiedenen Anlagen zu wechseln. Auch hinsichtlich der Instandhaltung und der Ersatzteillagerung ist die Standardisierung natürlich von Vorteil. Wir sind im Instandhaltungsbereich für jemanden, der aus einer anderen Branche kommt, sicher ausgezeichnet ausgestattet.
Können Sie Ihre Instandhaltungsstrategie noch näher erklären?
Da wir einen Dreischichtbetrieb in der vollen Breite betreiben, haben wir ein sehr starkes Instandhaltungsteam. Dadurch, dass wir selbst Anlagen und Werkzeuge bauen, ist unsere Instandhaltung nicht nur kurativ, also störungsbehebend, und präventiv tätig. Das ständige Verbessern und Optimieren unserer Anlagen, die sogenannte perfektive Instandhaltung, zählt ebenso zu den Kernaufgaben dieser Teams. Diese Aufgabe wäre mit einem externen Maschinenbauer nicht so einfach bewältigbar. Wir haben bis zum letzten Bauteil alle Daten. Auch mit Predictive-Maintenance-Ansätzen beschäftigen wir uns. Dafür haben wir in Anlagen Sensorik verbaut, um zu erkennen, wo es in den nächsten Tagen Probleme geben könnte und wo wir jetzt eingreifen sollten.
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Blum und Stiwa sind miteinander gewachsen. Gemeinsam haben wir die Automatisierungstechnik vorangetrieben.
Bei aller Innovation: Stehen bei Ihnen auch Maschinen, die bereits alle drei Geschäftsführer-Generationen durchlebt haben?
Wir haben vor zwei Monaten Pressen entfernt, die wir Mitte der 1980er-Jahre angeschafft haben und die man durchaus als Urgesteine bezeichnen könnte. Sie wurden mit dem Produktauslauf unserer STANDARD-Rollführungen obsolet. Eine oder zwei Maschinen gibt es noch, die seit 35 Jahren laufen, aber nicht mehr im Dreischicht-Betrieb. Die werden zum Beispiel für Musterfertigung im Produktinnovationsprozess oder für Ergänzungsprodukte genutzt, die wir nicht so automatisiert fertigen. Grundsätzlich sind uns beim Kauf neuer Anlagen aber zwei Dinge wichtig: Hochleistung und Zuverlässigkeit. Das heißt auch, sie sind darauf ausgelegt, dass sie lange halten.
Den Anspruch haben wahrscheinlich die meisten, oder?
Ja, aber in der Modebranche zum Beispiel wird man nie so viel Geld ausgeben, damit eine Anlage 30 Jahre hält. Wir betreiben unsere Anlagen, solange wir sie für ein Produkt nutzen können. Das heißt auch, dass wir sie während ihrer Lebenszeit umbauen. Bei großen Pressen belassen wir im Grunde nur noch das mechanische Gerüst, und den Rest erneuern wir komplett. Das ist eine weitere Stärke unseres eigenen Maschinenbaus: Wir können alle unsere Maschinen auf moderne Steuerungen umbauen.
Was produzieren Sie in Ihrem hauseigenen Sondermaschinenbau und welche Rolle spielt Stiwa als Lieferant?
Wir haben im Sondermaschinenbau mehrere Technologiepartner, mit denen wir zusammenarbeiten, und einer davon ist Stiwa. Blum und Stiwa sind miteinander gewachsen. Gemeinsam haben wir die Automatisierungstechnik vorangetrieben. Stiwa ist sozusagen für die Entwicklung der Lego-Steine verantwortlich, macht also Standard-Bauteile und baut einen großen Teil unserer Anlagen. Und daneben bauen wir auch selbst Anlagen auf. Sie sehen in unseren Werken Anlagen, von denen Teile aus der Fertigung Blum kommen und andere Teile aus der Fertigung Stiwa. Wir entscheiden jedes Mal: Welche Anteile macht Stiwa in Oberösterreich? Welche Anteile machen wir hier? Und wie verheiraten wir die Teile miteinander?
KI ist nicht das Pferd, das wir bis zum Exzess reiten.
Wie weit sind Ihre jeweiligen Standorte miteinander vernetzt?
Vernetzt müssen natürlich all unsere Standorte in Vorarlberg sein, weil sie ja jeweils auf unterschiedliche Bereiche spezialisiert sind. Wir fertigen Kunststoff- und Zinkteile in unserem Werk in Fussach, Stahlteile, deren Volumen nicht zu groß ist, in einem Werk in Dornbirn, veredeln sie bei unseren Partnern in Vorarlberg und liefern sie dann an die Montagewerke. Und von dort müssen die fertigen Produkte in unsere Versandwerke. Auch unser Werk in Polen ist in unseren Verbund in Europa integriert. Und die Werke in den USA, Brasilien oder China bekommen mitunter auch Komponenten von hier. Also die Materialflussvernetzung ist auf jeden Fall gegeben.
Sind bei Ihnen auch IIoT-Systeme im Einsatz?
Natürlich setzen wir auch auf intelligente, vernetzte Sensoren und andere Elemente. Im Werk 8 stehen etwa 40 Stanzmaschinen, deren Stanzabfälle wir vollautomatisch abführen und in Behälter sortieren. Damit haben wir den Vorteil, dass wir diese Wertstoffe zu einem wesentlich höheren Erlös, weil absolut sortenrein und ohne Fehlwurf, an den Entsorger liefern können.
Ist auch künstliche Intelligenz bei Ihnen bereits Thema?
Wir haben unsere ersten Erfahrungen mit KI-Projekten gemacht. Aber ich persönlich sehe die Überbetonung dieses Themas als eine Modeerscheinung. Wir haben durch unsere hohe Automatisierung schon sehr viele Daten verfügbar, also Auftragsdaten, Qualitätsdaten der Anlage und so weiter. Wir haben Auswertungstools an den hochautomatisierten Anlagen, wir werten die einzelnen Prozesse aus...
Wäre das nicht eine gute Basis für KI-Projekte?
Wenn alles zusammenpasst, ist das eine gute Basis. Wir haben zwar Millionen Daten, aber wenn die Stempel zu diesen Daten nicht exakt zusammenpassen, dann fehlt eine wichtige Voraussetzung für KI-Projekte. An der Verbesserung dieser Voraussetzung müssen wir noch arbeiten.
In welchem Bereich fanden Ihre KI-Versuche statt?
Da gab es mehrere Projekte. Dazu gehörte zum Beispiel ein sich selbst optimierender Prozess einer Schweißparameter-Steuerung.
Und wie verlief dieses Projekt?
Es hat wesentlich länger gedauert, als wir geglaubt haben. Wir haben dabei gelernt, dass KI unsere Probleme nicht einfach löst, sondern dass wir beim Aufsetzen eines solchen Projekts ein perfektes Daten-Setup benötigen. Wenn ich sage, bei der Anwendung von KI als Werkzeug stehen wir noch ganz am Anfang, wäre das falsch. Aber KI ist für uns mit Sicherheit noch nicht als Standardtechnologie im Einsatz. Auch im Spritzgussbereich haben wir einen Piloten gemacht, aber das war viel zu komplex, weshalb wir das Projekt wieder abgebrochen haben. Wir setzen uns also damit auseinander. Aber KI ist nicht das Pferd, das wir bis zum Exzess reiten.
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