Events : Das war die Ersatzteiltagung 2022
In einer Zeit der gestörten Lieferketten und fehlenden Arbeitskräfte sind Digitalisierungsmaßnahmen nicht nur „nice to have“. Vielmehr werden Maschinenbauer, Logistikdienstleister und After Sales-Verantwortliche fast dazu gezwungen, sich digitale Lösungen zu suchen, bzw. diese selbst zu entwickeln. Beispiele aus der Praxis gab es dafür auf der 7. ETT, die das Team von Factory gemeinsam mit Fraunhofer Austria am 19. Mai veranstaltet hat. Rund 100 BesucherInnen waren vor Ort und pflegten ihr Netzwerk. Und das in der eindrucksvollen Motohall von KTM.
Tiefpunkte und gute Vorsätze
Nach einer kurzen Einleitung durch die Geschäftsführerin der WEKA Industriemedien, Beatrice Schmidt, und die ModeratorInnen Martin Riester und Cornelia Groiss, ging es los mit den Inhalten. Den Anfang machte Christian Waach, der seit 2013 als Vice President bei der KTM AG tätig ist. Er gab den BesucherInnen einen ehrlichen Einblick in seinen Betrieb zur ersten Phase der Coronakrise. „Ich gestehe, ich war der unangenehmste Mensch, den man sich vorstellen kann“. Wenn von einem Tag auf den anderen die Aufträge um bis zu 30 Prozent in die Höhe schießen und man weder beim Material noch bei den MitarbeiterInnen weiß, wie man hinterherkommen soll, ist das wohl nachvollziehbar. Was sich Waach aus dieser Zeit mitnimmt? Er denke jetzt vorausschauender und hinterfrage schlechte Gewohnheiten im Betrieb und auch persönlich.
Open Source als Zukunftschance für Europa?
Es folgte eine eindrucksvolle Rede aus dem Bereich der Logistikforschung. Und zwar vom Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik (IML), Professor Michael Henke. Dieser sieht in der Zusammenarbeit europäischer Unternehmen die große Chance für Europa, im B2B-Markt seine Position in der Welt zu sichern. In gemeinsamen Datenräumen, so sein Plädoyer, sollten Firmen ihre Lösung miteinander teilen und sich dadurch gegenseitig stärken. Das Fraunhofer IML hat zum Beispiel im Rahmen des Großprojekts „Silicon Economy“ ein Programm offenzugänglich gemacht, mit dem die Ankunftszeiten von Transporten berechnet werden können. Nach diesem Vorstoß wünscht sich Henke, dass mehr und mehr Firmen nachziehen, mehr mit Open Source arbeiten und somit die Silicon Economy vergrößern. „Es braucht ja nicht jeder das Rad neu erfinden, denn es gibt logistische Lösungen, die jeder braucht“, so sein Statement. Dass FirmenvertreterInnen dem Teilen ihrer Daten skeptisch gegenüberstehen, zeigte sich auch an der Reaktion im Publikum. Sofort nach dem Vortrag kam die Frage nach der Machbarkeit und eine vorsichtige Skepsis gegenüber dem Teilen bestimmter Unternehmensdaten. Die Datenintegrität, betonte Henke, könne aber mithilfe der Blockchain-Technologie sichergestellt werden.
Nach Professor Henke betrat Wolfgang Steiner von der Firma INFORM die Bühne. Er stellte in einem kurzen Impulsvortrag die Software ADD*ONE vor. Und zeigte, wie diese die Planung der gesamten Supply Chain erleichtern soll – von der Absatzplanung bis zur Beschaffung.
Versorgungssicherheit durch schnelle, flexible Lieferung
Krisztián Abzalov ist National Product Manager Logistics bei cargo-partner. Er blickte gemeinsam mit Alexander Gerum, der jahrelang in derselben Firma tätig war, von der Perspektive der Logistikdienstleister auf die Thematik. Mittlerweile ist Gerum Key Account Manager bei SPOTworx, einem Unternehmen, das zu cargo-partner gehört und seine KundInnen bei der Digitalisierung und Automatisierung von logistischen Geschäftsprozessen unterstützt. „Mit diesem Service helfen wir unseren Kunden sicherzustellen, dass Lieferungen pünktlich und vollständig eintreffen“, sagte Gerum. Und Abzalov ergänzte: „Denn die beste Ersatzteillogistik im Lager und auf der Last-Mile hilft nichts, wenn die benötigten Ersatzteile nicht verfügbar sind“. Das Service erstreckt sich soweit, dass Teile, die bis 18:30 Uhr bestellt werden, sich noch am selben Tag auf den Weg zu den KundInnen machen können. Möglich ist das durch die geografische Nähe des Standorts in Fischamend zum Flughafen Wien und auch zu jenem in Bratislava. Die Optimierung der logistischen Prozesse, so die Aussage der beiden Vortragenden, sei hier also schon sehr weit fortgeschritten. Immer in dem Spannungsfeld zwischen Schnelligkeit und Flexibilität.
Keine blinde Digitalisierungseuphorie
Mathias Ortner, Global Spare Parts Manager beim Spritzgussmaschinengersteller ENGEL hat sich für ein KI-gestütztes Tool der Firma Partium entschieden, um seine Servicetechniker zu entlasten. Auf der ETT berichtete er gemeinsam mit Partium-CEO Philipp Descovich über dessen Einsatz im Feld. Konkret handelt es sich dabei um ein Programm, das die Identifikation von Ersatzteilen vereinfachen und damit die Suche nach dem richtigen Teil verkürzen soll. Und zwar einerseits durch Bilderkennung und andererseits durch deren Verknüpfung mit weiteren, in einer riesigen Datenbank hinterlegten Parameter. Ortner und Descovich traten dabei mehr als gute Freunde und weniger als Geschäftspartner auf – und gaben sich gegenüber einer allzu großen Digitalisierungseuphorie sogar kritisch. „Wenn wir jetzt anfangen, alle Engelmaschinen mit einem digitalen Zwilling auszustatten, sind wir in zehn Jahren zu 20 Prozent damit fertig. Aber wem bringt das was?“, warf Ortner als rhetorische Frage ein. Descovich, bemüht keinen klassischen Werbevortrag zu halten, riet für manche Fälle sogar davon ab, sein Tool zu kaufen: „Wenn Sie einem treuen, erfahrenen Mitarbeiter, der die Teile kennt wie seine Westentasche, das Leben damit erleichtern wollen, dann lassen Sie es. Geben Sie ihm lieber eine Gehaltserhöhung – damit ist ihm mehr geholfen!“.
Wie Daten zu Prognosen werden
Künstliche Intelligenz – und Big Data – spielten auch im Vortrag von Volker Baier, Bereichsleiter Ersatzteile Global bei PÖTTINGER Landtechnik und Alexander Schmid, Senior Researcher bei Fraunhofer Austria eine tragende Rolle. Sie stellten das Recommender System namens „Shopping Trolley Eagle“ vor, das beim Landtechniker in Verwendung ist. Sinn und Zweck dieses Tools ist es, Verkaufsdaten zu analysieren und daraus Schlüsse auf das künftige Bestellverhalten von KundInnen zu ziehen. „Mit dem scharfen Blick des Adlers kann man besser sehen“, erklärte Schmid die originelle Namensgebung des Analysetools. Wer mit Daten arbeiten will, muss diese jedoch zuerst sammeln und in guter Qualität bereitstellen. „Aus unserer Sicht waren die Daten, die wir zusammengetragen haben, erstklassig. Für Fraunhofer waren sie gerade noch zufriedenstellend“, merkte Baier mit einem Augenzwinkern an. Für erste Erfolge war das Datenmaterial schließlich ausreichend. Mit den Anaylseergebnissen bekam PÖTTINGER eine gute Grundlage in die Hand, um seinen KundInnen vorherzusagen, welche Menge sie von einem Ersatzteil in nächster Zeit wahrscheinlich benötigen werden. Wodurch diese besser planen und effizienter bestellen können.
Mit Pragmatic Industries stellte Moritz Bernhardt ein weiteres Unternehmen vor. Es bietet „Digitalisierung as a Service“ – auch im Hinblick auf die Ersatzteillogistik – und zielt dabei vor allem auf den Mittelstand ab.
Mit dem richtigen Teil aufs Feld
Mit einem weiteren Landtechniker begann nach dem Mittagessen der zweite Teil der Tagung. Warum die Landwirtschaft diesmal so präsent war? Erntezeiten beschränken sich oft nur auf wenige Wochen pro Jahr, was es umso wichtiger macht, Stillstände zu verhindern und Reparaturzeiten so kurz wie möglich zu halten. Noch dazu sind Landmaschinen auf oft riesigen Feldern abseits großer Verkehrsadern im Einsatz. Das erschwert Servicetechnikern die Anfahrt. Im Bewusstsein für diese Herausforderungen hat man beim Landmaschinenhersteller Claas ein Remote Service eingeführt. Sven Olof Schacht, Leiter des After Sales Bereichs bei Claas Regional Center Central Europe, erklärte, wie es funktioniert. Über Funk seien die einzelnen Maschinen mit einer Zentrale verbunden, die im Falle eines technischen Gebrechens den Techniker mit der Reparatur beauftragt, der den kürzesten Anfahrtsweg hat. Dieser könne außerdem aus der Ferne auf Maschinendaten zugreifen, das Problem identifizieren und im besten Fall bereits mit dem richtigen Ersatzteil anreisen. Was sein Unternehmen dazu bewogen hat, dieses Service anzubieten? „Zeigen Sie mir den Techniker, der gerne im Hochsommer bei über 30 Grad nach 20 Uhr ausrückt, um sich untere einen Mähdrescher zu legen“, meint Schacht pointiert. Es liege auf der Hand, dass kompetente, engagierte Arbeiter rar gesät sind, wodurch eine Vereinfachung und Automatisierung der Prozesse notwendig wurde.
Korrosionsschutz ohne Reinigungsprozedur
Ein selten diskutiertes Thema im Bereich der Ersatzteillogistik ist die Konservierung von Ersatzteilen. Und das, obwohl es eigentlich höchst relevant ist. Durch Öle, Fette, Folien und Trockenmittel können Teile vor Korrosion geschützt werden, doch all diese Mittel haben ihre Vor- und Nachteile. Ebenso wie die VCI-Technologie, die Frank Hoffmann vom Institut für Korrosionsschutz Dresden vorstellte. VCI steht für Volatile Corrosion Inhibitor, es handelt sich dabei also um einen flüchtigen Korrosions-Verhinderer. Es gibt etwa VCI-Folien oder Papiere, in die zu schützende Metallteile eingepackt werden. Daraufhin löst sich ein Gas, das sich auf die Teile legt. Beim Auspacken verflüchtigt sich dieses Gas wieder, wodurch es nicht notwendig ist, die Teile nachher zu reinigen. Im Vergleich dazu kann die Reinigung mit Fetten eine aufwändige Angelegenheit sein. Wie man eine FCI-Folie erkennen und dadurch von anderen Folien unterscheiden könne, fragte ein Besucher aus dem Publikum. „Die Folien sind oft gelb oder blau eingefärbt. Und sie haben einen ganz eigenen Geruch“, so Hoffmanns Erklärung.
Eine Plattform mit Wachstumsplänen
„Warum kein Maschinenbauer mehr ein Ersatzteil verschicken sollte“, nannte Benjamin Reichenecker ganz selbstbewusst seinen Vortrag. Er ist CEO und Mitgründer des Startups PartsCloud, das seinen KundInnen diese Aufgabe indirekt abnehmen möchte. Indirekt, weil die Firma selbst keine Logistikdienste anbietet. Vielmehr stellt sie eine Cloudplattform zur Verfügung, die Dienstleister und Maschinenbauer miteinander verbindet und so eine just-in-time-Belieferung möglich machen soll. „Maschinenbauer sollten sich auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren können und dafür im After Sales auf Spezialisten zurückgreifen“, empfiehlt er. Wovon freilich nicht nur diese, sondern auch seine Firma profitieren sollen. Das Publikum zeigte sich interessiert. Und Reichenecker ambitioniert: „Ziel ist es, in nächster Zeit noch bis zu 30 neue KundInnen zu gewinnen“.
Durchhaltevermögen für Ersatzteillogistiker
Gegen Ende der Veranstaltung konnten die BesucherInnen die sogenannte „READY TO RACE Welt“ von KTM besichtigen. Im interaktiven Museum gab es zahlreiche Ausstellungsstücke und interaktive Screens, um den bekannten Motorradherstellers noch besser kennenzulernen. Nach dem Rundgang fanden sich alle BesucherInnen noch einmal im Vortragssaal zusammen – zur fulminanten Abschluss-Keynote des südafrikanischen Motorsportlers Joey Evans. Mitreißend erzählte er aus seinem Leben, in dem er stets von seinem großen Traum geleitet war, die Rallye Dakar zu bewältigen. Ein Wirbelsäulenbruch, ein Beinbruch und mehrere technische Gebrechen an seinem Motorrad erteilten ihm immer wieder Rückschläge. Und doch gab es in der Geschichte ein Happy End – und eine Message. Stetiges Weitermachen, von Kilometer zu Kilometer, kann einen schließlich zum Ziel führen. Bei den ZuschauerInnen, die seit zweieinhalb Jahren mit Lieferproblemen kämpfen, stieß Evans damit auf offene Ohren. Auch ihr Durchhaltevermögen ist zuletzt oft auf die Probe gestellt worden. Die ETT gab ihnen nicht nur neue Impulse und viel Wissen mit auf den Heimweg, sondern auch ein Stück Zuversicht.