KI-Anwendungen : Künstliche Intelligenz im Maschinenbau: Wie sich der Hype am Shopfloor spiegelt
Von künstlicher Intelligenz in der Produktion war vor 40 Jahren noch wenig die Rede. Damals startete Gerhard Aigner seine Karriere beim Spritzgießmaschinenhersteller Engel. Der erste Chatbot namens ELIZA war zwar bereits Ende der 60er Jahre entwickelt worden. Für den Durchbruch von KI gab es aber noch lange nicht genügend Trainingsdaten – und ohnehin wären die damaligen Computer zu langsam gewesen, um große Datenmengen zu verarbeiten. Aigner ist Produktionsleiter im Engel Großmaschinenwerk in St. Valentin. Heute glaubt er an den Nutzen der künstlichen Intelligenz für die Produktion. „Wir sammeln große Mengen an Daten, zum Beispiel Maschinendaten und Qualitätsdaten. Die Auswertung dieser großen Datenmengen ist ohne digitale Lösungen nicht denkbar“, findet Aigner. Dabei sieht er gerade darin das Potenzial, Prozesse effizienter zu machen und Produkte von gleichbleibend hoher Qualität zu produzieren. Laut Engel-CEO Stefan Engleder nähert man sich immer mehr der sich selbst regelnden Spritzgießmaschine. In einem Interview von 2021 verkündet er: „KI wird zum Gamechanger für Spritzgießer“.
Wir bleiben im Maschinenbau, fahren aber gedanklich 150 Kilometer östlich ins Starlinger Hauptquartier in Wien. Das Unternehmen produziert seit 50 Jahren Produktionsanlagen für Säcke, Verpackungsgewebe und technische Textilien aus Kunststoff-Bändchengewebe. Seit mehr als 30 Jahren außerdem Recyclinganlagen für Kunststoffe. Zum Thema künstliche Intelligenz hat es bis dato aber noch keine Schritte gesetzt. Auf Anfrage von FACTORY hieß es, dass KI bei den dortigen Anlagen derzeit nicht im Einsatz sei, und auch von Kundenseite werde die Technologie nicht nachgefragt.
Bei Wittmann Battenfeld, in der Herstellung von Spritzgießmaschinen tätig und geografisch im niederösterreichischen Kottingbrunn gelegen, sieht die Sache wieder anders aus. Dort ist Patrick Chromy, Team Leader Application Development, für Fragen rund um künstliche Intelligenz verantwortlich. Er schätzt das Thema als „sehr dringlich ein“ – vor allem angesichts des Fachkräftemangels.
Und bei der Maschinenfabrik Liezen und Gießerei GmbH (MFL) in der Steiermark, wo man sich immer stärker als Zulieferer der Bahnindustrie versteht, streicht man gleich mehrere Vorteile durch den KI-Einsatz heraus: „KI-Technologien können maßgeblich dazu beitragen, Prozesse automatisch anzupassen, Fehler zu erkennen und zu korrigieren, die Entscheidungsfindung zu verbessern und die Produktqualität zu erhöhen“, so CEO Herbert Decker. Potenziale sieht er auch bei der Automatisierung repetitiver Tätigkeiten.
Ohne die kamerageführte Bahnoptimierung wären in der Schneckenfertigung die heute erhaltenen Ergebnisse nicht denkbar.Gerhard Aigner
Machine Learning-Algorithmen: Durchwachsen, aber am Wachsen
Soweit die Positionen von vier der umsatzmäßig größten Maschinenbauer des Landes. Engel ist mit Abstand der größte, gefolgt von Wittmann Battenfeld und Starlinger, MFL liegt auf Platz sechs, wird mit seinem neuerlichen Großauftrag aber deutlich aufholen. Doch wie steht es um die Taten? Für die jährlich von der TU Wien herausgegebene Studie “Made in Austria: Zukunft Produktionsarbeit Österreich“ wurden auch 2022 wieder über 100 Vertreter:innen der österreichischen Industrie befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Befragten bereits zu 52 Prozent Algorithmen des maschinellen Lernens (ML) in der Produktion oder in produktionsnahen Bereichen nutzen. Das waren knapp 20 Prozent mehr als im Jahr davor. Am meisten setzen die Firmen Machine Learning Tools im Bereich Qualitätsmanagement, in der Fertigung, sowie in der Produktionsplanung bzw. -Steuerung ein. Groß im Kommen sind die ML-Algorithmen in der Instandhaltung, wo deren Einsatz am stärksten zugenommen hat.
Die in diesem Artikel vertretenen Maschinenbauer zeigen, wie unterschiedlich weit die Branche ist, was die Umsetzung betrifft. Während man bei Starlinger noch gar keine Anwendung nennen kann, kann Gerhard Aigner von Engel kann bereits mit einer Reihe von Projekten aufwarten. Wie etwa jenes im Großmaschinenwerk in St. Valentin. „Ohne die kamerageführte Bahnoptimierung wären in der Schneckenfertigung die heute erhaltenen Ergebnisse nicht denkbar“, berichtet er – und geht noch weiter ins Detail: „Bei den Richtmaschinen entwickeln wir den gesamten Richtprozess auf Basis der aufgezeichneten Parameter selbstlernend weiter“. Dadurch konnte man bei Engel, wie der Produktionsleiter erklärt, den Schneckenbruch beim Richten minimieren. Als weiteres Beispiel nennt Ainger die Erstellung eines digitalen Zwillings, einer virtuellen Produktion. „Die Simulation macht es möglich, die Fertigungsqualität eines Bauteils aus den Prozessgrößen vorherzusagen“, erklärt er.
Tief in der Materie ist man auch bei MFL. Herbert Decker nennt als Beispiel eine Anwendung von Predictive Maintenance: „Hier setzen wir auf intelligente Wartungsintervalle, die mit Hilfe von ML-Algorithmen identifiziert werden“. Weitere Möglichkeiten zum Einsatz von maschinellem Lernen werden laut dem Geschäftsführer laufend evaluiert – etwa für die Produktionsoptimierung, Qualitätskontrolle oder Prozessoptimierung.
Etwas bedeckter gibt man sich bei Wittmann Battenfeld. Trotz der Dringlichkeit wird hier laut Chromy lediglich zur Datenanalyse auf künstliche Intelligenz zurückgegriffen. Doch dabei soll es nicht bleiben: „Langfristig ist der Einsatz zur Prozessoptimierung im Spritzguss geplant“, so der Teamleiter.
Künstliche Intelligenz bietet die Möglichkeit, Menschen Zeit und Raum für kreative, wertschöpfungssteigernde Tätigkeiten einzuräumen.Herbert Decker
Die Ängste der Mitarbeiter:innen
Eine erst kürzlich veröffentlichte Studie des Instituts für empirische Sozialforschung (IFES) zeigt, dass 11 Prozent der Arbeitnehmer:innen gegenüber der Digitalisierung nach wie vor skeptisch sind. Und 18 Prozent haben das Gefühl, digitale Angebote nicht nutzen zu können oder von den Vorteilen der Digitalisierung nicht profitieren zu können. Was auffällt: Die Angst vor Arbeitsplatzverlust ist nicht mehr dominierend, immer stärker wird hingegen die Sorge vor Überwachung. Der Schlüssel zu mehr Akzeptanz ist laut den Studienautoren die Fähigkeit, damit umzugehen. Die Ergebnisse legen nahe, dass Unternehmen ihre Mitarbeiter:innen entsprechend schulen und einbinden, bevor sie neue, digitalen Arbeitsmittel implementieren.
Was das betrifft, präsentiert sich Engel vorbildlich. „Wir beziehen bei allen Projekten unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eng mit ein und berücksichtigen deren Bedürfnisse. Oft auch gemeinsam mit dem Betriebsrat“, beteuert Aigner. MFL-Geschäftsführer Decker sieht die Akzeptanz von KI in der Produktion generell steigen. Grund dafür sieht er in einer positiven Veränderung der Arbeitswelt: „Künstliche Intelligenz bietet die Möglichkeit, Menschen Zeit und Raum für kreative, wertschöpfungssteigernde Tätigkeiten einzuräumen, während die Technologie repetitive Tätigkeiten übernimmt“.
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Europa – KI-Nachzügler oder Pionier?
Zoomen wir uns raus aus Österreich. Im Wettstreit um die Vorherrschaft beim Thema KI haben die USA die Nase vorn, wobei China mit Hochgeschwindigkeit an KI-Modellen forscht. Während Europa hier in einer allgemeinen Betrachtung alt aussieht, zeichnet ein Fokus auf den industriellen Einsatz ein ganz anderes Bild. In einer Veröffentlichung des Consulting-Anbieters Capgemini heißt es etwa: "Europa ist führend im Bereich der Industrie-KI. Mehr als die Hälfte seiner Top-Herstellerunternehmen hat mindestens einen KI-Anwendungsfall in der Produktion implementiert“. Ein naheliegender Grund für diese prominente Stellung könnte sein: Höhere Lohnkosten, ein detailliertes Arbeitsrecht und der Mangel an Fachkräften erhöhen den Druck auf die europäischen Unternehmen, bei der Automatisierung und somit auch bei KI-Anwendungen aufs Gas zu steigen.
Laut Made-in-Austria-Studie sind künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen am Shopfloor angekommen. Von den hier zu Wort gekommenen Maschinenbauern nutzen drei von vier die Technologie – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Weitere Anstrengungen wird es dazu in Europa sicherlich geben. Man könne nur sehr schwer vorhersehen, wo der nächste KI-Durchbruch kommt, sagt der Data Scientist Lars Mehnen. Den aktuellen Hype um den Chatbot von OpenAI hat die Allgemeinheit nicht vorausgesehen. Genauso Gerhard Aigner Anfang der 1980er wohl erahnen konnte, dass er es in den 2020er Jahren mit einer virtuellen Produktion zu tun haben würde.
(Lesen Sie dazu auch folgenden Kommentar: KI = Kritische Infrastruktur)