Ersatzteillogistik : „Das größere Versorgungsproblem bei elektronischen Komponenten sind Technologiewechsel“

Herr Voß, wie ging es Ihnen und dem Ersatzteil-Geschäft von John Deere in den letzten drei Jahren, die doch sehr krisengebeutelt waren?

Ich arbeite glücklicherweise in einem sehr privilegierten Bereich der Industrie. Wir hatten zwar erhebliche taktische und strategische Herausforderungen zu bewältigen, aber die Einbrüche waren nicht katastrophal. Dennoch gab es drei große Themenbereiche, mit denen wir konfrontiert waren.

Welche Themenbereiche sind das?


Das sind erstens Störungen in der Lieferantenbasis, etwa bei Halbleitern, die ja auch durch die Presse gegangen sind. Wir hatten die Herausforderungen allerdings nicht nur mit den prominentesten Commodities, sondern quer durch die Bank. Dazu kam zweitens die weltweite Störung der Logistikströme, sowohl kostenseitig als auch im Hinblick auf verfügbare Kapazität. Das hatte Folgen für die Versorgungssicherheit und brachte viele operative Herausforderungen. Wir mussten eher ständig wechselnde Feuer löschen als dass uns ein Thema quasi über Monate außer Gefecht gesetzt hätte. Die Mehrzahl dieser Störungen ließ sich in einem gewissen Zeitrahmen wieder lösen.

Und was ist das dritte Thema, mit dem Sie zu kämpfen hatten?


Das waren die geopolitischen Herausforderungen, zuvorderst der russische Krieg in der Ukraine, der uns marktseitig getroffen hat. John Deere hat sich aus dem russischen Markt zurückgezogen, heute haben wir dort keine Fertigung und auch keine Ersatzteil-Distribution mehr. Wir haben aus Russland auch CIS-Märkte bedient; das hat dazu geführt, dass sich Logistikströme neu orientieren mussten.

Historisches Bildmaterial. Der US-amerikanische Landmaschinenhersteller John Deere hat 1956 die deutsche Heinrich Lanz AG übernommen.

ETT 2023

Wolfgang Voß ist als Speaker auf der Ersatzteiltagung (ETT) am 11. Mai 2023 in Hörsching bei Linz dabei. Neben neun weiteren spannenden Vorträgen referiert Voß dort zum Thema „Globalisierung im Rückwärtsgang“ und zeigt seine Strategien für Service Parts auf.

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Wir sehen weltweit eine Tendenz zu nicht abgestimmter, protektionistischer Gesetzgebung.

Welche Trends ergeben sich langfristig aus diesen Herausforderungen?

Wir sehen weltweit eine Tendenz zu nicht abgestimmter, protektionistischer Gesetzgebung. Einerseits in Form von offensichtlichem Protektionismus über Country-Source-of-Origin-Regeln, andererseits aber auch als versteckte non-tarifären Handelshemmnisse.

Sprechen Sie hier über einen Staat im Speziellen?

Ich sehe das im Grunde weltweit. Da gibt es in der Türkei Kennzeichnungen auf bestimmten Keilriemen. Country-Source-of-Origin-Dokumentationsanforderungen treffen uns in Afrika relativ zum Umsatz sehr heftig. Aber auch innerhalb der EU gibt es perspektivisch Steuern auf Plastikverpackungen, die nicht einheitlich sind, sondern auf nationaler Gesetzgebung beruhen. Solcherlei macht es uns schwierig, den Überblick zu behalten und flexibel Waren zwischen verschiedenen Märkten hin und her zu bewegen.

Es gibt auch die Bestrebungen mancher Unternehmen, ihre Produktion wieder nach Europa zu holen, um Störungen in den Lieferketten entgegen zu wirken. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Das ist eine Reaktionsmaßnahme auf dieses veränderte Umfeld. Im Grunde muss ja die Strategie sein, das eigene Versorgungs- und Verteilnetzwerk robuster zu gestalten. Und dazu gehört auch eine geografische Kontraktion. Das heißt: Lokalisierung der Supply-Base, Verkürzung der Logistikwege, und eine lokale Produktion für den lokalen Markt.

Ist das auch Ihr Mittel der Wahl? Oder mit welchen Strategien reagieren Sie auf dieses veränderte Umfeld?


Kurzfristig kann man die Lagerbestände erhöhen und die Planungsparameter, Vorlauf- und Beschaffungszeiten anpassen. Das kostet aber Effizienz. Deshalb müssen wir als mittel- bzw. langfristige Lösung das globale Netzwerk verändern, etwa durch Local Sourcing oder flexiblere Routings.

Wie kann ich mir das genauer vorstellen?


Typischerweise binden wir Lieferanten an einem Punkt in unser Netzwerk ein; der Lieferant beliefert einen Standort und von dort übernehmen wir die Verteilung in unserem Netzwerk. Wir schaffen aber gerade Strukturen, in denen wir Lieferanten parallel an mehrere Standorte anbinden, sodass wir von der zentralistischen Struktur wegkommen und uns alternative Zugangsmöglichkeiten eröffnen.

Welche langfristigen Maßnahmen gehen Sie sonst noch an?


Wichtig ist auch eine stärkere Zusammenarbeit über die gesamte Wertschöpfungskette bis zum Handel. Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass ein Landwirt seine Maschine am Laufen hält. Die Messgröße unseres Erfolgs ist letztlich also der Over-the-Counter-Fill im Handel. Dafür arbeiten wir auf der einen Seite daran, die Verfügbarkeit bei uns als Hersteller für den Handel zu verbessern. Aber wir möchten auf der anderen Seite dem Handel auch helfen, das richtige Material zur richtigen Zeit vorzuhalten. Wir nennen diese Strategie Retail Parts Management. Händler, die da intensiv eingebunden sind, können eine bessere Kombination aus Bestand und Verfügbarkeit erreichen. So machen wir unser Netzwerk stabiler und reduzieren die zeitkritischen Machine Down Orders.

Technologiewechsel sind bei elektronischen Komponenten aus meiner Sicht das größere Versorgungsproblem als die geopolitische Abhängigkeit von China.

Welche Rolle spielt Technologie, um Ihre Planungssicherheit zu erhöhen?

Da gibt es eine Fülle von Ansätzen. Am naheliegendsten sind intelligente Vorhersagemethoden. Wir arbeiten mit künstlicher Intelligenz, konkret mit mehrdimensionalen Vorhersagemodellen, die eine bessere als eine rein historische Bedarfsprognose für den Ersatzteilbereich ermöglichen.

John Deere hat zu Beginn des letzten Jahres einen selbstfahrenden Traktor auf den Markt gebracht. Das zeigt auch, dass bei Ihnen Elektronik eine immer größere Rolle spielen wird. Wie krisensicher sind Sie in diesem Bereich, auch in Hinblick auf die Abhängigkeit von Staaten wie China?


Beim Thema Elektronik sehe ich aufgrund von Technologiesprüngen die Gefahr, dass die Versorgungssicherheit mit Ersatzteilen irgendwann nicht mehr gegeben ist. Ich habe mir einmal den Spaß gemacht, bei uns die Stammdaten zu durchforsten – und das älteste aktive Teil stammt aus dem Jahr 1929. Dieses Teil hat also einen Produktlebenszyklus, der über 90 Jahre geht. Das wird ein elektronisches Bauteil niemals erreichen. Bei Controller-Komponenten sind zunehmend ganze Architekturen nicht mehr verfügbar. Und das liegt nicht an John Deere oder an der Beschaffung aus China, sondern entsprechende Teile sind auf dem gesamten Weltmarkt nicht mehr erhältlich. Technologiewechsel sind bei elektronischen Komponenten aus meiner Sicht das größere Versorgungsproblem als die geopolitische Abhängigkeit von China.

Deswegen werden Sie doch bei John Deere nicht aufhören, innovativ zu sein und neue Produkte zu entwickeln?


Nein, das können und wollen wir auch nicht. Wir gewährleisten für unsere Produkte weit über die wirtschaftlich übliche Lebensdauer hinaus die Ersatzteilverfügbarkeit. Wenn Sie sich einen Oldtimer-Traktor anschauen, der vielleicht aus den 50er Jahren kommt, gibt es dafür meist noch Ersatzteile. Bei neuen Modellen wird das in 80 Jahren sicher deutlich schwieriger.

Landwirtschaft der Zukunft? Ein Prototyp von John Deere in Nordamerika.

- © John Deere

Würden Sie im Nachhinein sagen, dass man sich zu sehr auf die vermeintliche Stabilität der Lieferketten verlassen hat?

Sicher hätte man die strategische Optimierung der gesamten Netzwerkstruktur forcieren können. Ich glaube nicht, dass man zu viel Energie darauf verschwenden sollte, alle Krisen dieser Welt vorherzusagen. Vielmehr müssen wir uns zukünftig mehr darauf fokussieren, unsere Geschäftsstruktur robuster zu gestalten.

Was heißt das konkret?


Wir müssen flexibler und reaktionsfreudiger werden – auch um den Preis, dass vielleicht das letzte Quäntchen an Kostenoptimierung fällt.

Bedeutet das auch ein Stückweit „Globalisierung im Rückwärtsgang“, wie Ihr Vortragstitel für die Ersatzteiltagung lautet?


Im Nachgang zu sagen, die Globalisierung hat uns in diese Krise gestürzt, ist aus meiner Sicht zu einseitig. Nüchtern betrachtet hat sie dazu geführt, dass wir eine nie dagewesen lange Periode wirtschaftlichen Wachstums erleben durften. In den westlichen Ländern hatten wir dadurch eine sehr lange Boomphase und der wirtschaftliche Fortschritt in den Schwellenländern hat ein Tempo angenommen, das es lange davor in der Weltwirtschaft so nicht gegeben hat.

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Zur Person:

Dr. Wolfgang Voß ist als Manager, Service Parts Operations EMEA/CIS sowie als Geschäftsführer für den Bereich Service Parts des US-amerikanischen Landtechnikherstellers John Deere verantwortlich. In dieser Funktion leitet er die europäischen Ersatzteillager, Parts Support Services sowie die Belieferung der Händler in der Region. Voß war seit 2004 in Funktionen als Werkleiter und Abteilungsleiter an Standorten in Deutschland und den USA sowie in den Geschäftsbereichen Traktoren, Mähdrescher bzw. Rasen- und Grundstückspflege tätig. Er hat an der Universität Kaiserslautern Wirtschaftsingenieurwesen studiert und wurde dort anschließend promoviert.

Wolfgang Voß
© John Deere