Kolumne von Sebastian Schlund : Deindustrialisierung oder die Renaissance manueller Arbeit?

Nicht zu vergessen sei hier die Erleichterung der Arbeit und die Automatisierung gefährlicher und körperlich harter Arbeitstätigkeiten. Es ist noch gar nicht so lange her, dass die angebliche komplette Substitution manueller Arbeit durch Roboter und KI-Algorithmen ausgerufen wurde. Dieses Szenario ist nicht eingetreten. Trotz eindrucksvollen Innovationssprüngen, gerade in den genannten Bereichen der Robotik und der KI sucht die Industrie in Österreich – und übrigens auch im restlichen Europa – händeringend nach Arbeitskräften.

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Das liegt zum einen am jetzt langsam real werdenden demographischen Wandel, aber auch an der Transformationsgeschwindigkeit neuer Technologien in der Industrie. Bis hier neue Innovationen flächendeckend Einzug halten, vergehen Jahre, manchmal Jahrzehnte. Zudem sorgt die nach wie vor hohe Varianz von Produkten bis hin zur Losgröße 1 für Flexibilitätsanforderungen an die Produktionsprozesse, die aktuell noch nicht erfüllt sind, sodass Menschen nicht komplett ersetzt werden können. Somit klafft immer noch eine große Lücke in der Industrie zwischen den Erwartungen an die Produktivitätseffekte neuer Technologien und der Realität der Umsetzung.

BILD zu OTS - Sebastian Schlund ?bernimmt Leitung des Centers f?r Nachhaltige Produktion und Logistik bei Fraunhofer Austria
Professor Sebastian Schlund leitet den Forschungsbereich Industrial Engineering am Institut für Managementwissenschaften (IMW) der TU Wien und ist Geschäftsführer der Fraunhofer Austria Research GmbH mit ihren beiden Centern Nachhaltige Produktion und Logistik und Data-Driven Design. - © Fraunhofer Austria

Die unbeleuchtete Seite der Transformation

Diese Lücke zwischen Erwartungen und Realität sehen wir auch im Übergang zur Kreislaufwirtschaft. Unisono wird darin ein zentrales Element nachhaltiger Wertschöpfung gesehen. Dafür müssten allerdings mehr als nur homöopathische Dosen genutzter Produkte wieder- und weiterverwendet werden. Um in relevanten Umfang möglichst werterhaltende Kreislaufwirtschaft zu betreiben, müssten, benötigt es Produktionssysteme für die Demontage, Qualitätskontrolle, Reinigung und Neuassemblierung von Produkten, die in schwer vorhersehbarer Stückzahl und Varianz zurückkommen. Zudem werden diese Produkte, zumindest über die nächsten Jahre, wenig oder keine Informationen über ihren Zustand und ihr Nutzungsverhalten mitführen.

All dies sind Faktoren, die eine Prozessautomatisierung erschweren. Das sinnvollste Szenario ist hier die Gestaltung von Produktionssystemen mit einem hohen manuellen Anteil und partieller Automatisierung. Universalautomaten wie Cobots werden hier benötigt, damit die Produktionskosten am Standort in Europa überhaupt im halbwegs wettbewerbsfähigen Bereich liegen. Wird diese Chance nicht genutzt, droht ein gefährliches Szenario – die Deindustrialisierung, indem die Kreislaufwirtschaftsstrukturen anderswo aufgebaut werden. Umgekehrt betrachtet eröffnet sich hier eine riesige Chance, in Bereichen wie der Aufarbeitung von Altprodukten, Elektrogeräten, Textilien und vielen anderen Produktgruppen neue Wertschöpfung und damit zukünftige Wertschöpfung an den Standort Österreich zu bringen. Dafür müssen aber jetzt endlich die Strukturen industrialisierter und sinnvoll automatisierter Kreislaufwirtschaftsprozesse geschaffen werden!