Interview mit Tobias Seidel von der BMW AG : "Was wir mit den Daten in ein paar Jahren tun, wissen wir noch nicht"
Dennis Rathmann: Wenn große Maschinen über lange Zeit mit nur einem einzigen Bauteil durchgehend im Einsatz sind, müssen natürlich Qualität und Maße passen. Gab Ihnen das bei BMW die Motivation dafür, den Prozess digital zu diagnostizieren?
Tobias Seidel: Wir erhoffen uns viel von der Inline-Qualitätsüberwachung des Prozesses. Zum einen sind wir als Werkzeugbauer Einzelteilhersteller. Wir haben zwar selbstähnliche Bauteile und Bauteile, die mit selbstähnlichen Prozessen bearbeitet werden, aber trotzdem sind sie unterschiedlich. Das andere ist die Qualität. Die muss passen – gerade bei bearbeitungsintensiven Bauteilen. Wenn innerhalb der 70 Stunden mannloser Fräsbearbeitung die Platte bricht und ich merke das erst am Ende der Bearbeitung, dann muss das Ding noch einmal auf die Fräsmaschine. Das ist wirtschaftlich nicht akzeptabel. Dazu kommt, dass wir generell an der Wirtschaftlichkeit unserer Prozesse arbeiten. Wir sind zwar ein interner Werkzeugbau, aber wir stehen in einem Wettbewerb zu externen Werkzeugbauern.
Ich komme von der Firma Hufschmied und mit der gab es das gemeinsame Projekt MyILQ2020, um solche Prozessdiagnostiken und Inlinekontrollen durchzuführen. Können Sie dieses Projekt kurz vorstellen und erklären, was es damit auf sich hat?
MyILQ2020 war ein Förderprojekt, das letztes Jahr ausgelaufen ist. Wir waren dort Konsozialführer mit BMW und das Ziel war, ein Ökosystem über die Prozesskette des Fräsens zu schaffen. Wir haben versucht, Daten von Bearbeitungsmaschinen zu erfassen, aber auch von den Hersteller:innen von Fräsmitteln und von Anlagenhersteller:innen. Wir wollten damit eine Austauschplattform schaffen, wo Daten ausgetauscht werden. Ähnlich dem übergeordneten Projekt Catena X.
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Podcast: Prozessdiagnostik bei BMW
Sind Sie eher der auditive Typ? Dann hören Sie das Gespräch hier nach - in unserer 16. Folge der FactStorys!
Welche Fragestellungen haben Sie in dem Projekt bearbeitet?
Die erste Fragestellung war: Wie gelingt es uns, die Maschinen alle an IoT-Systeme, an Cloudsysteme anzubinden? Es ging darum, unterschiedlichste Anlagen anzubinden; von unterschiedlichen Hersteller:innen, die unterschiedlich alt und mit unterschiedlichen Steuerungssystemen ausgestattet sind. Das zweite war die Frage nach Datensicherheit und Datensouveränität. Wie können wir sicherstellen, dass aus unseren Daten nicht irgendjemand das Design des Fahrzeugs in drei Jahren rauslesen kann, das bei uns gerade auf der Maschine ist? Wir mussten also die Daten soweit verfälschen, dass daraus keine solchen Erkenntnisse gewonnen werden können, während sie trotzdem noch nutzbar sein solten. Dieses Thema konnten wir klären. Dazu arbeiten wir mit einer treuhänderischen Plattform zusammen, die die Daten für uns verwaltet.
Gibt es konkrete Erkenntnisse, die daraus gewonnen wurden?
Wir haben viel Erfahrung gesammelt im Labeln der Daten. Dabei haben wir gelernt, wie wir Daten aus unterschiedlichen Datenquellen zeitlich richtig übereinanderlegen, oder sie mit einem Zeitstempel versehen können. Und hier ist mit MyILQ2020 die Basis gelegt. Zudem haben wir den Versuch gestartet, Industriestandards zu schaffen. Was wir dabei nachgewiesen haben, ist, dass die die Use Cases sowohl im ökonomischen als auch im ökologischen Sinne sicher da sind.
Wo sehen Sie denn da weitere Anwendungen im Hause BMW oder generell in der Industrie – auch abgesehen vom Fräsen?
Die Ergebnisse sind sehr stark auf den Zerspanungsprozess ausgerichtet. Der Nutzen der Prozessdiagnostik entlang der gesamten Prozesskette ist aber unstrittig. Darin steckt die große Möglichkeit, mit dem Fremdmittel-Hersteller zusammen einen ökologischen und ökonomisch idealen Prozess zu erreichen.
Wenn uns ein Fremdmittelhersteller auf Basis unserer Messdaten Hinweise gibt, wo wir an der Grenze sind oder wo noch mehr geht, dann können wir Prozesse gemeinsam optimieren.Tobias Seidel
Bekommt ein Fremdmittel-Hersteller also nicht alle Daten von BMW, oder wie muss man sich den Datenaustausch vorstellen?
Das Grundprinzip der Treuhänder war, dass alle Seiten Zugriff und Hoheit über ihre Daten behalten. Wir speichern unsere Daten zunächst lokal in BMW-eigenen Clouds und Edge Systemen. Und dann geben wir ganz gezielt für einzelne Projekte Daten in den Austausch.
Das Thema ökologischer Fußabdruck ist zurzeit sehr zentral. Was wären denn weitere Potenziale des Datenaustausches, zum Beispiel im Werkzeugbau oder auch im BMW-Konzern?
Beim Fräsen kann ich den Materialeinsatz und somit die Standzeit unserer Schneidemittel optimieren und dadurch Ressourcen schonen. Und natürlich treibt uns auch das Thema Standzeiterhöhung von Fremdmitteln massiv an. Wenn wir diese vorhersagen und Werkzeuge bis zum Ende auszunutzen können, sparen wir da wirklich Kosten.
Wie handhabt ihr den Wechsel von Fremdmitteln aktuell noch?
Momentan wechseln wir sie – angstgetrieben – vermutlich etwas früher aus. Denn wenn das Werkzeug während des Prozesses bricht oder stumpf wird, dann habe ich hohe Arbeitskosten. Und wenn ich einen Fremdmittelhersteller habe, der uns auf Basis unserer Messdaten Hinweise gibt, wo wir an der Grenze sind oder wo noch mehr geht, dann können wir unsere Prozesse gemeinsam optimieren. Und zwar besser als wenn wir es alleine täten.
Heute würden wir uns wünschen, für bestimmte Anwendungsfälle in den letzten Jahren schon Daten gesammelt zu haben.Tobias Seidel
Kommen wir zu den Herausforderungen. Ich stelle mir das sehr komplex vor, einen Berg an Daten sinnvoll zu sammeln und zu verarbeiten. Wie haben Sie das gelöst?
Wir bekommen Daten aus den Maschinen selber, beispielsweise Positionsdaten. Wir haben Körperschallsensorik und Kraftaufnehmer in die Maschinen integriert, die die resultierenden Fräskräfte aufnehmen. Wir arbeiten auch mit hochauflösenden Kamerasystemen. Diese Daten zu sammeln und in die Cloud zu schieben, das funktioniert mittlerweile.
Was machen Sie dann mit diesen Daten?
Die Problematik ist zunächst, diese Daten in eine zeitliche Korrelation zu bringen. Wir haben Sensoren, die mit unterschiedlichen Abtastraten arbeiten. Einen Sensor haben wir immer mit zwei Megahertz-Daten erfasst und einen anderen mit fünf. Die muss ich irgendwie überlagern. Und die zweite große Schwierigkeit beim Labeln, Vorbereiten und Aussortieren der Daten ist, dass wir noch nicht gänzlich wissen, was wir mit diesen Daten vielleicht in ein paar Jahren tun. Heute würden wir uns wünschen, für bestimmte Anwendungsfälle in den letzten Jahren schon Daten gesammelt zu haben. Insofern ist es schwierig, die Daten händelbar zu machen und damit möglichst viele Optionen für die Zukunft zu haben.
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