Kommentar : Industrierobotik: Der Hype ist vorbei
Im Zeitraum von 2013 bis 2017 erhöhte sich die Anzahl der Installationen von Industrierobotern um durchschnittlich 20 Prozent pro Jahr*. Die Erwartungen an einen Produktivitätsschub in der Industrie erreichten im Schlepptau des Überthemas ‚Industrie 4.0‘ die breite Öffentlichkeit. Industrieroboter zierten plötzlich die Titelseiten von Tageszeitungen und Wochenmagazinen. Zu den Möglichkeiten von Robotern – gern auch schutzzaunlos und mobil – hatte plötzlich jede/r eine Meinung. In Fernsehtalkshows wurde darüber diskutiert, wie viele Arbeitsplätze durch Robotik ersetzt werden. Selbst Szenarien zum Ende der Produktionsarbeit machten die Runde.
(Empfehlung aus der Redaktion: Robotik: Wie sich Flexibilität und Autonomie mit Sicherheit vereinbaren lassen)
Höhepunkt 2018 erreicht
Beim Blick auf die aktuellen Zahlen und Entwicklungen erscheint dies wie eine Diskussion aus längst vergangener Zeit. Bilder aus Karosseriewerken, Lackieranlagen oder der Halbleiterindustrie lassen zwar Anderes erwarten; tatsächlich ist die Roboteranzahl im Vergleich zur gesamten Arbeitsbevölkerung in der produzierenden Industrie verschwindend gering. Sie steht bei 126 Industrierobotern pro 10.000 Beschäftigten. Österreich liegt hier bei einem Wert von 205. Der Spitzenwert von 422.000 weltweiten Industrieroboterinstallationen datiert aus dem Jahr 2018. In der Konsequenz flachte auch die Wachstumskurve der Gesamtanzahl von Industrierobotern ab und liegt aktuell bei circa 3,5 Millionen. Eine Trendumkehr ist aktuell nicht in Sicht. Zum globalen Konjunkturabschwung in den Jahren 2019 und 2020 gesellen sich Erschütterungen der Wertschöpfungsnetzwerke im Zuge der pandemiebedingten Lieferverzögerungen. Die Risiken des Kriegs in der Ukraine sorgen zudem dafür, dass vielfach Innovationsprojekte verzögert oder pausiert werden.
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"Bis wirklich intuitive und schnelle Programmierkonzepte nutzbar sind, werden noch Jahre vergehen."
Sebastian Schlund
Vom Hype in die Übernüchterung
Das ist schlecht für Strategieberater, Venture Capital-Firmen und Talkshows, aber gut und sinnvoll für die produzierende Industrie. Denn jenseits der überzogenen Erwartungen und Ängste wird der Kern der Sache wieder sichtbar. Und der liegt darin, dass wir es mit universell einsetzbaren Mehrzweckwerkzeugen zu tun haben, die wir gerade in Mitteleuropa dringend für die Automatisierung industrieller Prozesse benötigen. Das Potenzial für Automatisierung ist immer noch vorhanden, Robotiksysteme werden immer ausgereifter. Gleichzeitig werden Fachkräfte im Produktionsbereich überall händeringend gesucht. Die Industrialisierung von Robotikanwendungen bleibt jedoch vorerst harte Arbeit. Bis wirklich intuitive und schnelle Programmierkonzepte nutzbar sind, werden noch Jahre vergehen. Gleiches gilt für die simulationsbasierte Sicherheitszertifizierung schutzzaunloser Systeme oder die wirklich flexible Nutzung von Industrierobotern für vielfältige Prozesse und Produktvarianten.
Das alles ist nicht schlimm und für die meisten Robotikexperten keine wirkliche Überraschung. Spätestens Ende 2022 kann mit einer Stabilisierung der Lieferketten gerechnet werden. Genauso wie der Hype sollte dann auch die aktuelle Überernüchterung aufhören. Wir tun gut daran, Innovationsthemen und -projekte im Bereich der Industrierobotik nicht zu lange aufzuschieben. Wann allerdings wirklich die Produktivitätsfortschritte flächendeckend durchschlagen, weiß keiner. Sicher ist nur: Wer nicht anfängt, wird nicht fertig.
*Alle Zahlen stammen aus dem Jahresbericht „World Robotics 2021 Industrial Robots“ der International Federation of Robotics (IFR).