Start-up : Diesen vier KI-Start-ups vertraut Siemens

KI industrie-tauglich zu machen sei ein Team-Sport, sagt Boris Scharinger, Senior Innovation Manager bei Siemens Digital Industries. Er ist nicht der Manager, der das Rampenlicht für sich oder seinen Arbeitgeber sucht. Im CTO-Office positioniert er sich mit seinen Kolleginnen und Kollegen von Siemens im Bereich Künstliche Intelligenz anders als die Wettbewerber. Er setzt auf ein Zusammenspiel aus Automatisierung, KI- und Domänen-Wissen.

Das würden wohl die meisten Konzerne unterschreiben und wohl alle Kompetenzen für sich reklamieren. Scharinger und seine Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich Digital Industries setzen auf ein Ökosystem an Startups, die sie mit zu ihren Kunden bringen, um „robuste Lösungen für den Markt zu entwickeln.“

Von Hardware bis zu KI-Modellen

Auf einem Kundenevent luden die Münchener erstmals eine Runde an KI-Startups ein, sich mit ihren industriellen KI-Lösungen zu präsentieren. Das bedeutet nicht, versichert Scharinger, dass der Technologiekonzern nicht in KI investiere – ganz im Gegenteil: Im AI Lab in München berät ein Team Kunden zu KI-Strategie und Einsatzmöglichkeiten und forscht an robusten Algorithmen. Aber man könne nicht alles allein machen, mahnt Scharinger. Das sind für Branchenbeobachter neue Töne.

Ansätze und Beispiele für gelungene Kooperation gibt es viele: Etliche KI-Algorithmen werden in Siemens-Werken einer Feuertaufe unterzogen. Andere Start-ups setzen für ihre Lösungen auf die besonders robuste Siemens-Hardware. Darüber hinaus kann Siemens in einer Start-up-Partnerschaft den MLOps-Part übernehmen. Das bedeutet: Die Münchener verteilen KI-Modelle zuverlässig und effizient in die Produktion, überwachen und aktualisieren diese bei Bedarf. Damit dabei keine sensiblen Daten rausgehen, wenden sie das Prinzip des sogenannten federated learning an. Das bedeutet, die Unternehmen tauschen keine Daten mehr untereinander aus, sondern nur noch trainierte Modelle. Dass das weltweit reibungslos funktioniert, überzeugte jüngst sogar den Riesenkonzern Procter&Gamble.

Die IngenieurInnen von Katulu übertragen die „Autovervollständigen“-Funktion, die man von Smartphones kennt, auf den Maschinenbau.

Lernende Maschinen ohne Datenaustausch

In der Industrie ist federated learning der Mehrheit noch ein weitgehend unbekannter Ansatz, um dem „Distributed Data Dilemma“ zu entkommen. Der Begriff bezeichnet das Dilemma, dass AnwenderInnen ihre erfassten Maschinendaten, oft aus Angst vor Wettbewerbsverlusten, nicht teilen und diese dadurch für maschinelles Lernen nicht nutzbar sind. Das Hamburger Unternehmen Katulu lässt Maschinen voneinander lernen, ohne übereinander zu lernen. Die großen Smartphone-Hersteller setzen schon länger auf die Technologie: Die „Autovervollständigen“-Funktion bei Texteingabe lernt mit jedem Anwender - ohne dass deren Texteingaben in die Cloud geschickt werden. Stattdessen wird die Textvorhersage lokal weitertrainiert und nur die Modell-Anpassung über Nacht an den Smartphone-Hersteller weitergeleitet.


Das übertragen die Ingenieurinnen und Ingenieure von Katulu auf den Maschinenbau. Pumpen oder Spritzgussmaschinen profitieren von der Technik. Das Unternehmen hat seine eigene AI-Edge-Software, die Daten mittels MQTT oder OPC UA sammelt. Ein lokaler Data Lake entsteht, mit dem das Modell lokal trainiert wird. Modellanpassungen gehen dann – wie bei dem Smartphone auch – an das Backend des Maschinenbauers und werden zu einem neuen Gesamtmodell aggregiert. Daten bleiben lokal und Geschäftsgeheimnisse jeglicher Art somit geschützt.

(Lesen Sie auch: Machine Learning: Warum dem Maschinenbau die Zeit davonläuft)

Podcast: Künstliche Intelligenz in der Industrie

Wo steht die Industrie, was Machine Learning, KI und Datenverarbeitung betrifft? Wie lassen sich Prozesse und Produkte damit optimieren? Und wie geht man als Produktionsbetrieb am Besten an dieses Thema heran? Dies und mehr erfahren Sie in dieser FactStorys-Folge!

Technische Zeichnungen mittels KI auslesen

Ein Daten-Dilemma hat Dr. Jochen Mattes von Werk 24 nicht. Sein Machine-Learning Modell wird jeden Monat mit über 100.000 technischen Zeichnungen weitertrainiert. Die Idee: Die KI liest technische Zeichnungen aus und liefert Zeichnungslegende, Maße, Toleranzen, Gewinde, Fasen, Radien und Oberflächenqualität. Vor einigen Jahren besuchte Mattes in seinem ersten Job einen Maschinenbauer und beobachtete einen Ingenieur, der eine technische Zeichnung auf A0-Formate ausdruckte, sie dann an die Wand hing und eine halbe Stunde lang vor der Wand stand, um nach dem geringsten Toleranzwert zu suchen. In diesem Moment war Mattes klar, dass er diesen Prozess vereinfachen muss. Die Industrie schickt sich untereinander pdf- oder Bilddateien mit technischen Zeichnungen. Vor allem wenn es um das Bestellen von Teilen oder Komponenten geht, versenden die Unternehmen diese Formate. Und doch haben die pdf-Dateien einen großen Nachteil: Informationen sind nicht einfach zu extrahieren und die menschliche Analyse der Zeichnungen kostet Zeit. Das soll sich mit der KI ändern.

Die KI, die Werk 24 anbietet, liest technische Zeichnungen aus und liefert Zeichnungslegende, Maße, Toleranzen, Gewinde, Fasen, Radien und Oberflächenqualität.

Testing in Echtzeit

Scharinger und sein Team haben aber nicht nur deutsche Unternehmen auf dem Radar. Aus England kommen die Entwickler von Monolith AI, deren Lösung schon Teil des Siemens-Ökosystems ist. Die Briten bringen schon Referenzen aus der Automobilindustrie mit. Denn wer bei den 24 Stunden-Rennen in Le Mans siegt, der hat nicht nur die besten Fahrer am Steuer, sondern auch das beste Auto und die beste Technologie im Hintergrund. Jota gewann die Rennserie 2020, 2021 und 2022. Für die Entwicklung des Gewinner-Autos Oreca 07 setzten die Ingenieure auf KI im Engineering und Testing. Die Verantwortlichen konnten die Tests im Windkanal um 80 Prozent reduzieren, denn sie nutzten die KI-Plattform von Monolith AI.

Jede Simulation, die durchgeführt wird, entwickelt ein Modell weiter, denn Monolith AI setzt auf Echtzeitdaten. Damit könnte sich der Maschinenbau zahlreiche Tests sparen.

Die Entwickler aus London versprechen „test less“. Die Simulationsbranche boomt, aber der Monolith AI-Ansatz geht noch weiter. Jede Simulation, die durchgeführt wird, entwickelt ein Modell weiter, denn die Macher setzen auf Echtzeitdaten. Das bedeutet, der Maschinenbau könnte sich zahlreiche Tests sparen. Dazu kommt: Die KI macht dem Entwickler – basierend auf Echtdaten – Vorschläge zu seinem Produkt. Die Engländer haben ambitionierte Ziele: Bis 2026 soll die Produktentwicklungszeit von 100.000 Ingenieurinnen und Ingenieuren um 50 Prozent reduziert werden. Die Lösung ist mit der Siemens-Plattform MindSphere integriert.

Effizientes Zeitreise-Machinelearning

Neben Briten sind auch die Belgier von Tangent Works im Ökosystem vertreten. Zeitreihen und ihre Datenbanken sind momentan sehr begehrt. Vor einigen Wochen wurde bekannt, dass unter anderem Sequoia China zusammen mit anderen Investoren zehn Millionen US-Dollar in Timecho investiert und damit das Projekt Apache IoTDB pusht. Auch die Entwicklerinnen und Entwickler von Tangent Works aus Belgien haben den Reiz der Zeitreihen entdeckt und bieten ein Augmented Machine Learning für Zeitreihen an. Die Belgier haben das Tool „Tangent Information Modeler (TIM)“ entwickelt. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es sei ein Auto ML-Tool, aber das verneinen die Entwickler sofort. Sie nennen ihren Ansatz „Instant ML“ und seien damit einen Schritt weiter in der Automatisierung. Der Ansatz: Im Gegensatz zu Auto ML sei der Ansatz ressourceneffizienter. Es entsteht am Ende nur ein Modell für den Anwendungsfall, versichern die Belgier und das mit hoher Geschwindigkeit. Bei vielen Anwendungen seien es nur Sekunden, heißt es. Die geheime Zutat heißt Information Geometry für das Feature Engineering – der schwierigste Part bei Zeitreihen-Analysen. Das Tool kommt als SaaS-Lösung, auch diese wurde mit MindSphere integriert, läuft aber auch „on premise“ auf einem Edge-Device, wenn man das Modell an die Maschine bringen will.

Mit dem Analysetool von Tangent Works entsteht am Ende nur ein Modell für den Anwendungsfall – und das mit hoher Geschwindigkeit.

Smart Factories: Die Zukunft der Produktion ist intelligent, vernetzt und anfällig

Die Verringerung von Abhängigkeiten entlang der Lieferkette und die Optimierung von Effizienz und Transparenz stehen im Zentrum des Konzepts der Smart Factory. Lesen Sie hier, welches Potenzial sie für die Industrie 4.0 birgt.

Scharinger hat nicht die „fancy" Gründerinnen und Gründer versammelt, die mit allerhand Marketing die Industriewelten revolutionieren wollen. Er hat den Siemens-Kunden und seine Bedürfnisse im Blick, denn die Herausforderung bei KI-Projekten ist nicht die Idee oder die Machbarkeitsstudie im Labor, sondern robuste Implementierung und Betriebssicherheit der KI-Anwendung. Alle vier Unternehmen liefern einen schnellen Mehrwert für den Kunden und haben ihre Feuertaufe erfolgreich hinter sich gebracht.