Stellenbesetzung : Fachkräftemangel stieg in Industrieunternehmen am stärksten
Mehr als die Hälfte der Unternehmen können derzeit offene Stellen zumindest vorübergehend nicht besetzen – spürbar mehr als ohnehin schon vor Ausbruch der Corona-Krise. Lockdowns und Kurzarbeit haben den Fachkräftemangel nur zeitweise in den Hintergrund gedrängt. Der Fachkräftereport des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) beschreibt die aktuelle Lage, konkreten Folgen und hohen Herausforderungen. "Der Fachkräftemangel in den Betrieben ist zurück: schneller und in größerem Umfang als von vielen erwartet": So fasst der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks die Ergebnisse des DIHK-Reports Fachkräfte 2021 zusammen. "Wir haben bei den Arbeitskräften den Zenit erreicht. In den kommenden Jahren wird es für die Unternehmen ein immer mühsameres Geschäft, sich gegen die Fachkräfteengpässe zu stemmen. Zur Energiewende gesellt sich für die Betriebe nun auch die Herausforderung einer 'Fachkräftewende'."
Nun fehlt nicht (nur) das Geld, sondern auch der Mensch
Der Report beruht auf den Antworten von rund 23.000 Unternehmen. 51 Prozent davon können offene Stellen zumindest teilweise nicht besetzen, weil sie keine passenden Arbeitskräfte finden.– "und das, obwohl die Krise und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in vielen Betrieben nicht überstanden sind und der Konjunkturaufschwung schwächelt", gibt Dercks zu bedenken. Das bedeutet nicht nur einen immensen Zuwachs gegenüber Herbst 2020 – damals hatten lediglich 32 Prozent der Unternehmen von Fachkräfteengpässen berichtet –, sondern auch ein Plus gegenüber der Lage vor der Corona-Krise: Im Herbst 2019 hatten "nur" 47 Prozent der Betriebe Schwierigkeiten bei der Akquise neuer Mitarbeitender.
Zu den Knappheiten bei Rohstoffen und Vorprodukten sowie Lieferkettenproblemen kommen immer häufiger Engpässe bei Fachkräften hinzu – eine zusätzliche Herausforderung auch für die Umsetzung zentraler gesellschaftlicher Zukunftsaufgaben wie Digitalisierung, Klimawandel oder E-Mobilität. Dercks: "Im Zweifel fehlt nicht (nur) das Geld, sondern auch der Mensch. Und da dieser Fachkräftemangel natürlich auch die öffentliche Verwaltung betrifft, erschwert das über längere Genehmigungsverfahren den Betrieben zusätzlich das Leben."
Größte Engpässe am Bau, steilster Anstieg in der Industrie
Insofern ist angesichts der Investitionsbedarfe in der öffentlichen Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur problematisch: Die größten Lücken bei qualifiziertem Personal meldet mit 66 Prozent der Betriebe die Bauwirtschaft. Den stärksten Anstieg der Stellenbesetzungsprobleme gegenüber dem Vorjahr gibt es unter den Industrieunternehmen mit nun 53 Prozent nach 29 Prozent im Herbst 2020. Dabei lässt der besonders hohe Anteil von 57 Prozent bei den Investitionsgüterproduzenten wie etwa dem Maschinenbau befürchten, dass sich auch dadurch der Investitionsstau in Deutschland weiter verschärft.
Besonders und zunehmend gefragt: beruflich Qualifizierte
Ein nach Dercks' Einschätzung "ernstzunehmendes Geschäftsrisiko für viele Betriebe" ist die Ausbildungssituation: Bei der Bundesagentur für Arbeit seien rund acht Prozent weniger Ausbildungsplatzsuchende registriert als im Vorjahr. Zwar sei die Zahl der Ausbildungsverträge in den IHK-Berufen gegenüber dem Vorjahr in diesem Jahr wieder leicht angestiegen ist. Doch aktuell suchen 57 Prozent der Unternehmen, die Stellen nicht besetzen können, erfolglos Mitarbeitende, die eine duale Berufsausbildung absolviert haben. Im Herbst 2018 hatten noch 49 Prozent der Befragten Engpässe in diesem Bereich gemeldet.
Auch Absolventinnen und Absolventen von Weiterbildungen etwa zum Meister oder Fachwirt sind gefragt – hier berichten 36 Prozent der Unternehmen mit Stellenbesetzungsproblemen von einer erfolglosen Suche –; bei Hochschulabsolventinnen und -absolventen gibt es Engpässe vor allem in den MINT-Berufen.
Gravierende Folgen für Einzelbetriebe und Gesamtwirtschaft
Insgesamt erwarten 85 Prozent der Unternehmen negative Auswirkungen von dem wachsenden Fachkräftemangel. 61 Prozent der Betriebe sorgen sich um eine Mehrbelastung ihrer Belegschaften, 58 Prozent erwarten als Folge von Engpässen steigende Arbeitskosten – eine Entwicklung, die die anziehende Inflation noch weiter befeuern könnte. Und: 43 Prozent der Unternehmen gehen davon aus, dass sie Aufträge ablehnen oder ihr Angebot reduzieren müssen, weil nötiges Personal fehlt. Das bedeutet einen deutlichen Zuwachs gegenüber 2019 mit damals 39 Prozent und lässt weitreichende Konsequenzen erwarten.
"Durch Engpässe in einzelnen Bereichen können weite Teile der Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen werden", warnt Achim Dercks. "Fehlen beispielsweise IT-Experten, betrifft dies auch Mittelständler, die Geschäftsprozesse digitalisieren oder sich um eine bessere Cybersicherheit kümmern möchten. Fehlen Lkw-Fahrer, können industrielle Produktionsprozesse ins Stocken geraten, weil Vorprodukte nicht rechtzeitig geliefert werden, und fehlen Fachkräfte etwa zur Verlegung von Glasfaserkabeln, verlangsamt sich der dringend erforderliche Ausbau der Breitband-Infrastruktur. Wir haben also nicht nur Lieferprobleme in der Wertschöpfungskette, wir haben auch Fachkräfteprobleme in der Wertschöpfungskette."
Das schmälert auch die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Davon sind vor allem innovationsaktive Wirtschaftszweige wie etwa Kfz- und Kfz-Teile-Hersteller (35 Prozent), Programmierer oder die Medizintechnik (je 37 Prozent) betroffen.