Fälbl-Kolumne : Wider die ‚Enshittification‘ der digitalen Industrie

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Interoperabilität in der Industrie, Baustelle Cloud Computing

Industrie 4.0 steht für die Digitalisierung der produzierenden Industrie und führt zum vermehrten Einsatz von IT in (österreichischen) Fabriken. Die hohe Diversität in der Produktion, z.B. aufgrund branchenspezifischer Anforderungen oder existierender Anlagen unterschiedlicher Hersteller, führt zu einem traditionell ausgeprägten Bedarf nach standardisierten Lösungen und Interoperabilität seitens der Unternehmen. Dadurch wird die Entstehung dominanter Plattformen häufig verhindert. Dennoch gibt es einige Bereiche, in denen die Gefahr der „Enshittification“ (siehe Infobox) langfristig vorhanden ist.

Sehr viel Aufmerksamkeit erhält aktuell z.B. der Bereich Cloud Computing. Große, internationale Anbieter („Hyperscaler“) rittern um Marktanteile, auch im österreichischen Mittelstand. Cloud Apps und Services versprechen Nutzerinnen innovative Anwendungen, z.B. zu Condition Monitoring oder in der Qualitätssicherung. Gleichzeitig werden Anreize gesetzt, um möglichst viele Entwickler davon zu überzeugen, ihre Anwendungen für die jeweiligen Ökosysteme zu entwickeln. Plattformen entstehen und konkurrieren miteinander.

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Standardisierung als wichtiges Werkzeug

Aktuell profitieren alle Beteiligten von diesem Wettbewerb. Die Dominanz einer einzelnen Plattform ist für keinen der diversen Plattform-Betreiber attraktiv, solange sich kein spezifischer Anbieter durchsetzt. Auch die „Hyperscaler“ setzen derzeit auf Interoperabilität und die Entwicklung von Standards.

Sollte sich das ändern: was können österreichische Industrieunternehmen tun, um potenziellen negativen Entwicklungen vorzubeugen? Im Bereich Cloud Computing sind das Aufsetzen von „Hybrid Clouds“ oder „Multi-Clouds“, die Einforderung von Interoperabilität bei der Beschaffung von Software und vor allem der Aufbau kompetenter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kurzfristige Maßnahmen, die die Resilienz im IT-Bereich sicherstellen. Langfristig ist die Standardisierung ein wichtiges Thema: Unternehmen können mit ihren IT-Fachkräften an offiziellen Entwicklungen partizipieren (z.B. ISO/IEC JTC 1/SC 38 bzw. in österreichischen Spiegelgremien) oder an Standardisierungsinitiativen teilnehmen (z.B. Gaia-X).

Was für industrielle Cloudspeicher gilt, gilt für die gesamte digitale Industrie: Interoperabilität und Standards sind das beste Mittel gegen „Enshittification“.

Wie Plattformen sich verschlechtern

Die Verschlechterung digitaler Plattformen folgt laut Doctorow einem sich wiederholenden Muster:

  1. In einem ersten Schritt schafft eine Plattform zahlreiche Vorteile für ihre Nutzerinnen und Nutzer. Am Beispiel eines sozialen Netzwerks: Menschen registrieren sich für eine innovative Plattform, die es ermöglicht, unkompliziert Fotos mit ihren Kontakten zu teilen.
  2. Die Nutzerzahlen steigen, es entstehen Netzwerkeffekte und erhöhte Wechselkosten (Stichwort: Lock-In-Effekt). Im Beispiel: Freunde und Familie sind Teil der Plattform, der Umstieg auf ein anderes Netzwerk wird unattraktiver. Es ist auch sehr kompliziert, die Daten zu exportieren.
  3. Das wachsende Netzwerk wird attraktiv für andere Nutzerinnen und Nutzer, die ihre Zielgruppe erreichen wollen. Im Beispiel: Onlineshop-Betreiber registrieren sich und bewerben ihre Inhalte über die Plattform, auf der weite Teile der Kundschaft vertreten sind.
  4. Wer sich voll und ganz auf die Plattform einlässt, profitiert von weiteren Vorteilen, wiederum erhöhen sich die Wechselkosten. Im Beispiel: Die Onlineshop-Betreiberinnen lernen die technischen Fähigkeiten für den Verkauf ihrer Produkte im Netzwerk. Je mehr Zeit & Geld investiert wird, desto unattraktiver wird der Umstieg auf andere Plattformen…
  5. Die Plattform ist am Höhepunkt ihrer Entwicklung und profitiert finanziell von ihrer breiten Nutzerbasis, die sie aufgrund ihrer Marktmacht aufrechterhalten kann. Im Beispiel: Die ursprünglichen Nutzer sehen statt der Fotos ihrer Kontakte Werbung für Onlineshops, die Onlineshop-Betreiber müssen mehr und mehr investieren, um sichtbar zu bleiben. Trotzdem bleiben beide Seiten Teil des Netzwerks.

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An diesem Punkt ist für Doctorow die „Enshittification“ erreicht: Die Plattform verschlechtert sich zunehmend, ihre Nutzerinnen und Nutzer profitieren kaum noch, bleiben aber wegen hoher Wechselkosten auf der Plattform – eine Situation, die sich aufgrund mangelhafter Interoperabilität nur durch äußerst widerstandsfähige Konkurrenz oder durch Regulierung ändert. In beiden Fällen kann das sehr lange dauern.