Interview : Supply Chain Managerin von Andritz:
„Wenn sich jeder nur um sich sorgt, wird das System kollabieren“

Solveig Vitz
© Cornelia Groiss

FACTORY: Bei Andritz ist zurzeit eine Stelle im Supply Chain Management in der Steiermark ausgeschrieben. Wie attraktiv ist dieser Arbeitsplatz?

Solveig Vitz: Ich glaube, dass viele Dinge sich stark verändern. Früher ist der Einkauf als sehr banales Thema gesehen worden. Wo man sagte, das müssen nur knallharte Verhandler sein, die den Lieferanten so lange quälen, bis nur noch Blut unter den Fingernägeln rausquillt.

Sind Sie so eine harte Verhandlerin?

Vitz: Eben nicht. Ich lege unglaublich viel Wert auf Partnerschaften. Und durch diesen Wandel hin zu einem ganzheitlichen Denken, das ich sehr unterstütze, werden Jobs immer interessanter. Der Einkauf wird mehr und mehr zum Supply Chain Management wird, wo man sich auch Gedanken darüber macht, wie es den Kunden unserer Kunden geht und wie es den Lieferanten unserer Lieferanten geht. Und diese Komplexität ist etwas, das auch junge Leute fasziniert.

Ist Ihre Aufgabe als Supply Chain Managerin nicht etwas undankbar, weil erst jetzt alle darüber reden, wo es Probleme in den Lieferketten gibt?

Vitz: Ich muss zugeben, als ich vor zwanzig Jahren ins Supply Chain Management eingestiegen bin, hatte ich noch keine Ahnung, was das ist. Damals war das Motto: der Einkauf ist eh immer schuld. Viele Leute im Einkauf hatten das Gefühl, sie seien die Letzten in der Kette. Sie sind diejenigen, die am Schluss noch gefragt werden, die letzten drei, sieben oder zehn Prozent rauszuholen.

Was machen Sie anders?

Vitz: Wirklichen Erfolg im Supply Chain Management erzielt man dann, wenn man von Anfang an eingebunden ist, ab der Salesphase. Wenn man Zugang zu den Ingenieuren findet und mit ihnen über die möglichen technischen Lösungen redet. Wenn man mit den Lieferanten redet und ihnen auch Mut gibt, mir als Kunde Feedback zu geben. Aber ich gebe Ihnen Recht, es hat sehr lange gedauert, bis das verändert hat. Und es freut mich unglaublich, dass ich die Chance habe, in so einer spannenden Zeit dabei zu sein. Der Schwung kommt jetzt so richtig in Fahrt.

Sie sind studierte Umwelttechnikerin, oder?

Vitz: Ja, und Verfahrenstechnikerin. Im Recyclingprozess lag eigentlich immer schon mein Herzblut. Und durch einen reinen Zufall bin ich zum Supply Chain Management gekommen.

Dann muss doch auch von Anfang an der Nachhaltigkeitsgedanke bei Ihnen dagewesen sein. Wie weit lässt sich der einbringen in Ihre jetzige Arbeit? Und ist das mit einem Effizienzgedanken vereinbar, der natürlich immer mitspielt?

Vitz: Ich finde, jeder kann etwas beeinflussen, und große Unternehmen natürlich noch viel mehr. Und jeder hat eine Vorbildrolle, innerhalb der Firma und auch gegenüber Geschäftspartnern. Und ich glaube, was früher ein Lippenbekenntnis war, wird jetzt unglaublich real. Ich sehe im Moment einen Punkt, an dem sich Dinge wirklich verändern. Und diese Chance müssen wir nützen.

Wie weit kann da die Digitalisierung behilflich sein?

Vitz: Digitalisierung muss man sich in verschiedenen Bereichen anschauen. Etwa, wenn es um das Thema Transparenz geht – das ist gerade für mich als globale Supply Chain Koordinatorin wichtig. Ich muss wissen, welche Volumina wir einkaufen, bei welchen Lieferanten wir kaufen und welche Materialgruppen dahinterliegen. Und auch: wer in meinem Unternehmen kauft denn eigentlich beim gleichen Lieferanten und weiß das vielleicht gar nicht? Da hilft die Digitalisierung der Transparenz unglaublich.

Stichwort Lieferengpässe. Sie sind da wahrscheinlich genauso betroffen wie alle. War das voraussehbar, wie weit kann man sich auf sowas einstellen?

Vitz: Ich erinnere mich an eine Vorstandssitzung Anfang des Jahres, wo wir davon ausgegangen sind, dass wir Produktionsengpässe bei Lieferanten haben werden, weil viele ihre Produktion on hold gesetzt oder reduziert haben. Und das muss man erst wieder nachholen, was immer Zeit braucht. Insofern wussten wir, dass das kommt. Aber wir dachten, dass es sich bis Ende des Jahres hoffentlich beruhigt. Mit Betonung auf hoffentlich. Jetzt haben wir die Situation, dass Lieferanten nicht mehr arbeitsfähig sind. Viele unserer Lieferanten haben volle Auftragsbücher und müssen trotzdem wieder in Kurzarbeit gehen, weil bestimmte Grundmaterialien einfach nicht mehr vorhanden sind.

Welche Materialien sind das vor allem?

Vitz: Alle! Das kann bei Schrauben anfangen oder Nägel bis hin zu Bohrmaschinen. Ganz unterschiedliche Dinge fehlen in der Kette. Auch kleinere Teile, die wir gar nicht so on scope hatten. Wir sind natürlich auch in vielen globalen Lieferketten in China unterwegs. Und die Logistik ist absolut ein Bottleneck. Die Schiffe kommen nicht in den Hafen, können nicht gelöscht werden, die Container warten, bis sie geholt werden, es gibt Container-Engpässe. Und wenn in Amerika zum Beispiel Coronafälle am Hafen sind oder Hafenarbeiter gar nicht in den USA landen dürfen, dann haben wir natürlich Schwierigkeiten.

Sie haben die USA und China erwähnt. Man hört von vielen Seiten, dass wir uns zu sehr abhängig gemacht haben. Würden Sie das auch unterschreiben?

Vitz: Zum Thema Abhängigkeit ist meine sehr persönliche Meinung: Wir haben uns sehr wissentlich dafür entschieden, günstige Produkte einzukaufen. Es ist immer über Total-Cost-Analyse gesprochen worden, aber auch das war bis zu einem gewissen Punkt ein Lippenbekenntnis. Das Logistiksystem war ausgereizt. Und wenn man ein sehr ausgereiztes, sehr komplexes System hat – und wenn man die Spieltheorie anwendet – dann bringen auch kleinere Störfaktoren alles aus dem Gleichgewicht. Ein reiner Einkäufer, so wie es früher das Bild war, wird das teurere Produkt nicht nehmen. Weil er von seiner Organisation getrieben wird, den günstigsten Preis zu machen. Aber einen Supply Chain Manager in Ihrem Unternehmen können Sie sehr wohl dazu bringen, das Produkt zu nehmen, das mehr Added Value für den Kunden und damit die Profitabilität der eigenen Firma bringt. Das heißt, ich glaube sehr wohl, dass wir als Europa einen unglaublichen Marktvorteil erringen können. Und zwar unter Einbezug all der Megatrends, wie beispielsweise Sustainability, New Work und die Silver Generation. Wenn wir auf den gesamten Value Add schauen, um unsere eigenen Firmen profitabel zu machen, zu halten und noch profitabler zu machen, haben wir da absolute Chancen in Europa.

Sie haben ja natürlich keine Glaskugel. Aber…

Vitz: Wo geht der Weg hin (lacht)?

Genau!

Vitz: Ja, ich habe die Glaskugel wirklich nicht, aber es gibt auch verschiedenste Foren unter Supply Chain Managern und ich diskutiere auch mit Kunden und Lieferanten. Wir haben viele Produktionen nachgeholt, die durch Corona liegen geblieben sind. Das sieht man auch am Markt, zum Beispiel bei Cold Rolled Plates, Galvanized Hot Rolled Plates und so weiter. Die gehen ja auch jetzt wieder in den Preisen zurück. Wir werden aber diesen Sockelwert, den wir 2018/19 hatten, nicht mehr erreichen. Es bleibt schon auf einem höheren Level und so kalkulieren wir auch unsere neuen Projekte. Das heißt, es wird sich sehr wohl wieder eine gewisse Normalität bis Mitte nächsten Jahres einstellen, wobei ich es nicht ausschließen kann, dass wir vorher nochmal richtig hochgehen.

Woher kommt diese Ungewissheit?

Vitz: Weil so viele Faktoren zurzeit zusammenspielen, sodass unterschiedliche Rechenmodelle nicht zusammenpassen. Es gibt immer wieder mal Lieferanten, die mit dem unglaublichen Angebot kommen, dass wir jetzt schon Produktionsslots für Q2 und Q3 nächsten Jahres kaufen können. Zu einem horrenden Preis natürlich, aber dafür wären wir gesichert. Das bewirkt oft Panik am Markt. Das heißt nicht, dass wir nicht auch vorsorgen und uns bestimmte Strategien überlegen. Aber wenn alle anfangen, jetzt hunderttausend oder Millionen Stück auf Lager zu legen oder Produktionsslots zu reservieren, dann erzeugen wir ein unreales Bild eines Bedarfes, den es vielleicht gar nicht gibt. Im Jahr 2008/09 hatten wir eine ganz ähnliche Situation. Da waren die Preise sehr hoch und wir hatten auch unglaubliche Engpässe. Aber es ging dann radikal nach unten und unsere Lieferanten hatten dann volle Auftragsbücher, aber das waren keine realen Bedarfe. Und plötzlich haben alle Kunden angefangen zu stornieren, on hold zu gehen und große Projekte zu verschieben.

Aber wäre es jetzt rückblickend nicht klüger gewesen, wenn Sie mehr auf Lager gehabt hätten?

Vitz: Das hätten alle machen können – und dann hätten wir noch früher in die Krise schlittern können. Also, man muss ein realistisches Mittelmaß finden. Natürlich muss ich mit den Lieferanten reden und sagen, wann ein Projekt jetzt wirklich kritisch ist. Wenn ich nicht so offen rede und sage ich brauche dieses Projekt und dieses Projekt, nur damit ich auf Nummer Sicher gehe, dann führe ich irgendwann das Gesamtsystem ad absurdum. Das ist eine Erscheinung des Megatrends Individualisierung. Jeder möchte eine eigenständige Persönlichkeit sein, jede Firma möchte unabhängig sein. Wir dürfen dabei aber nicht das Gemeinsame außer Acht lassen. Wenn sich jeder nur um sich sorgt, wird das System kollabieren.

So oder so kann man sicher sagen: die nächste Krise kommt bestimmt. Wie kann man sich darauf vorbereiten?

Vitz: Wenn man bestimmte Gleichteile hat, die immer wieder kommen, sollte man sich die immer wieder mal auf Lager legen. Das kann man tun für Standard-Business. Aber wir haben sehr viel Anlagengeschäft – und das ist sehr spezifisch. Ich als Ingenieurin weiß jedoch, wir Ingenieure lieben die Sicherheit. Und das ist in Ordnung. Aber man muss auch ehrlich sein und sagen: wir haben es mit der Sicherheit vielleicht übertrieben. Oder vielleicht können wir ein anderes Material verwenden und zertifizieren lassen, das am Markt häufiger vorhanden ist. Da muss man kreativ sein. Ich glaube, nur mit dem Mainstream-Gedanken bringen wir die Welt total ad absurdum.

Sie als studierte Ingenieurin haben gerade sehr viele Unsicherheiten, mit denen Sie umgehen müssen. Wie bleiben Sie dann trotzdem so gelassen?

Vitz: (Lacht) Schön, dass Sie finden, ich sei gelassen. Ich habe auch meiner Tochter immer beibringen wollen: Es gibt für alles eine Lösung. Und man muss Dinge auch manchmal Schritt für Schritt tun. Wahrscheinlich bin ich eine extrem unorthodoxe Ingenieurin. Ich liebe die Technik. Ich bin mit Leib und Seele Mathematikerin und ich liebe die darstellende Geometrie. Aber ich bin ein "Menschenmensch". Ich glaube, dass die Zukunft wirklich in unserer Hand liegt. In der Hand der Menschen. Entscheidend ist, wie wir zusammenarbeiten, wie wir kommunizieren und wie wir füreinander da sind.