Testlabore : Wien, Linz, Graz: Im Strudel der Pilotfabriken Industrie 4.0
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Es sind Österreichs große Testlabore für Industrie 4.0: In Wien, Linz und Graz soll künftig frei nach dem digitalen Dogma Produktionsgeschichte geschrieben werden. Dafür stehen die drei Pilotfabriken, wo heimische Unternehmen – vom Großbetrieb bis zum KMU – die digitale Produktion an echten Maschinen und im Verlauf echter Produktionsketten ausprobieren können. Gerade Klein- und Mittelbetriebe, die es sich nicht leisten können, eigene Demo-Linien hinzustellen, würden davon profitieren, ist man beim großen Fördergeber BMVIT überzeugt. Dass die Politik das Thema Industrie 4.0 mittlerweile groß auf die Bühne hievt, ist bekannt. Dass sie sich dabei aber ungern von Forschungsmagnaten bevormunden lässt, wohl weniger. Es ginge immer um die Bedürfnisse der Unternehmen und die kenne man auf politischer Ebene ganz genau. Das 2 Millionen Euro schwere Startkapital, das in etwa die Hälfte der Kosten für den Aufbau und das Anlaufen der Pilotfabriken finanzieren soll, gab es für alle drei. Den Rest müssen die Betreiber, meist die Universitäten, selbst über Forschungsaufträge, Partner oder Ähnliches arrangieren. Wie ein echtes Unternehmen eben. Eine strenge politische Hand, die noch weniger Kompromisse bei der Wirtschaftlichkeit dieser Pilotfabriken kennt. Denn geht es nach dem BMVIT, sollen sich diese Pilotfabriken schon nach drei Jahren rechnen und selbst finanzieren können. „Was ist Österreich Innovation wert?“ fragt sich mittlerweile so mancher leidenschaftliche Produktionsgeist, dem damit der Wind aus den Segeln genommen wird.
Wiens großer Demonstrator
Frühstarter und Vorreiter ist die Pilotfabrik der TU Wien in der Seestadt Aspern, die nach der zweijährigen Aufbauphase nun endlich so gut wie fertig ist. Schon im Oktober sei die Fabrik so weit ausgestattet, „dass wir produzieren können“, sagt Wilfried Sihn, Leiter des an der Pilotfabrik beteiligten Instituts für Managementwissenschaften an der TU Wien. Die Systemintegration allerdings sei noch nicht im Vollbetrieb. „2018 erreichen wir die Endausbaustufe. Insgesamt ist eine 10-jährige Nutzungsphase geplant“, so Sihn. Gefertigt wird in Aspern ein Kunststoff- 3D-Drucker, der in mehreren Varianten zur Verfügung stehen wird. „Wir stellen dafür einerseits mechanische Komponenten her, andererseits kaufen wir Komponenten zu“, beschreibt Sihn. So sollen komplette Montage- und innerbetriebliche Logistikprozesse abgebildet werden. Jeden Donnerstagvormittag soll die Pilotfabrik, in der zwei bis drei Vollzeitarbeitskräfte sowie mehrere Teilzeitbeschäftigte und Studenten arbeiten, in Betrieb sein.
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Graz glänzt mit smartem Getriebe
Erst vor kurzem ist auch der Startschuss für die beiden anderen Pilotfabriken, die an der TU Graz sowie der Johannes Kepler Universität Linz angesiedelt sind, gefallen. „Die Förderperiode hat Anfang Juli begonnen“, erzählt Franz Haas, Leiter des Instituts für Fertigungstechnik an der TU Graz, dem die „smartfactory@tugraz“ zugeordnet ist. Im September sollen die Konsortialverträge mit den Partnerunternehmen unter Dach und Fach sein, derzeit läuft die Ausschreibung der Maschinen. „Das Gebäude ist bereits fertig, bis Februar 2018 soll das System stehen“, gibt sich Haas zuversichtlich. Dann wird der Erstbetrieb aufgenommen. „Mit Juni 2020 beginnt die echte Nutzungsphase, die vorerst einmal auf fünf Jahre angelegt ist.“ Produziert werden soll ein Smart Gear, ein Präzisionsgetriebe, das unter anderem bei Robotern oder im Bereich E-Mobilität Verwendung findet. „Aber das soll nicht das einzige Produkt bleiben“, versichert der Institutsleiter.
Linz baut für Audi
Etwas anders als Wien und Graz startet die „LIT Factory“ an der Johannes Kepler Universität Linz, die schon vor dem Bau ihr erstes Produkt an den Mann gebracht hat. Und das ist niemand Geringeres als Audi. Erstes Produkt der Linzer wird nämlich ein faserverstärkter Getriebebefestigungsträger für den Autokonzern sein. Die Fabrik wird ab 2018 errichtet, die Fertigstellung ist für 2020 vorgesehen. Die Nutzungsdauer ist bis 2033 geplant. „Die LIT Factory bildet den Kern des neuen LIT Open Innovation Centers“, sagt JKU-Rektor Meinhard Lukas. Sie werde an neuen, teils prototypischen Grenztechnologien mit hohem verfahrenstechnischen und digitalen Innovationspotenzial arbeiten. „Wie zum Beispiel digitale Tools für Systemengineering, Anlagen der Kunststofftechnik und die Vernetzung von cyberphysischen Systemen“, erklärt Lukas.
Pilotfabrik ist kein Lohnfertiger
Dass die Pilotfabriken dabei nicht zum Lohnfertiger verkommen sollen, ist vor allem Ingo Hegny wichtig. „Im Mittelpunkt steht die Produktion, nicht das Produkt“, so der Repräsentant des Fördergebers von der Abteilung Schlüsseltechnologien für industrielle Innovation: IKT, Produktion und Nanotechnologie im BMVIT. Die universitären Piloten sollen also produzieren, um zu beweisen, „dass bestimmte Ziele und Vorgaben erreicht werden können“. Für Hegny also klar Demonstratoren, die zeigen, „wie Industrie 4.0 von der Produktion über Logistik bis zur Montage funktioniert“. Unterschiede gäbe es da nicht nur bei den Produkten, sondern vor allem bei den Schwerpunkten. Während Wien also auf neue Konzepte für variantenreiche Serienproduktion im Bereich der diskreten Fertigungsindustrie setzt, legt Graz den Fokus auf agile und datensichere Konzepte in der digitalen Zukunft. In Linz hingegen stehen, so Lukas, innovative Verfahrenstechniken, mit deren Hilfe Materialien für neue Zwecke eingesetzt werden können. Unterm Strich: Leichtbauteile aus verstärktem Kunststoff für die Autoindustrie.
Wien versus Graz
Obwohl Hegny beteuert, dass das Ministerium großen Wert auf die inhaltliche Differenzierung aller Pilotfabriken gelegt hat, gehen Wilfried Sihn die Unterschiede zwischen den Pilotfabriken nicht tief genug. Wien als auch Graz hätten sich der diskreten Fertigung verschrieben. Warum man Graz so aufbaut, verstehe er nicht. Es gäbe nur ein begrenztes Budget, „dafür hätte es sinnvollere Felder gegeben“, kritisiert Sihn. Dem entgegnet Roland Sommer, Geschäftsführer der Plattform Industrie 4.0, die an der Themenfindung mitgewirkt hat: „Die Grenzen wurden scharf genug gezogen, die beiden Pilotfabriken sind komplementär zueinander.“ Derselben Meinung ist Kurt Hofstädter, Vorstandsvorsitzender der Plattform und Leiter der Division Digital Factory der Siemens AG Österreich: „Wir haben genau die Themen extrahiert, die den Unternehmen am Herzen liegen.“
Jedem Land seine Pilotfabrik?
Wie viele Pilotfabriken ein Land wie Österreich tatsächlich braucht, da ist man sich uneins. Kurt Hofstädter sieht jedenfalls noch Platz für das eine oder andere Testlabor Industrie 4.0. Voraussetzung: "Es braucht eine kritische Masse an Unternehmen, die mitmachen." Äußerst vielversprechend gestaltet sich hier der Bereich Mikroelektronik, für den bereits eine vierte Pilotfabrik im Gespräch ist. Wo diese eingerichtet wird, steht vorläufig noch nicht fest. „Sie soll im Silicon Austria eingebettet und keine Solitärlösung sein“, so Hegny. Anders sieht es Professor Friedrich Bleicher, Betreiber der Pilotfabrik in Aspern und Leiter des Instituts für Fertigungstechnik an der TU Wien. Für ihn würden zwei völlig reichen. Er kenne aber das politische Machtspiel der Bundesländer. „In Österreich wären wohl neun Pilotfabriken gerne gewünscht“, so Bleicher. Aber so „easy going“ sei das mit diesen Einrichtungen nicht. Denn das Konzept der Pilotfabrik sehe vor, dass diese mindestens zehn Jahre lang betrieben werden muss. „Demgemäß waren wir als beteiligte Institute gezwungen, uns Gedanken über ein Businessmodell zu machen, damit sich das Projekt nachhaltig finanzieren lässt“, so Bleicher. Ganz wie ein echtes Unternehmen müssen die Fabriken Personalkosten, Anschaffungskosten und Miete zahlen.
Fachhochschulen mischen mit
Im pilottechnischen Show-off mischen mittlerweile aber auch ganz neue Player mit: Fachhochschulen gehen dabei oft den „förderungstechnisch flexibleren Weg“, wie ein Insider meint. Seit April 2016 ist zum Beispiel eine Pilotfabrik an der FH Technikum Wien in Betrieb. Am Beispiel einer Montage von Achslagerböcken Wie viele Pilotfabriken ein Land wie Österreich tatsächlich braucht, da ist man sich uneins. Kurt Hofstädter sieht jedenfalls noch Platz für die eine oder andere Pilotfabrik. Voraussetzung: „Es braucht eine kritische Masse an Unternehmen, die mitmachen.“ Äußerst vielversprechend werden Industrieroboter untereinander so vernetzt, um künftige Produktionsszenarien effizient und sicher gestalten zu können. Und schon Ende September folgt die nächste FH-Pilotfabrik: Die FH OÖ Campus Wels eröffnet eine „Forschungsfabrik“, wie Hans Kastner, Leiter der FH OÖ Forschung, sie nennt. Ihr Schwerpunkt liegt in der generativen Fertigung von Metallbauteilen. Das Thema sei zwar branchenübergreifend, die FH konzentriere sich aber auf Automobil-und Flugzeugindustrie sowie Medizintechnik.
FHs-Finanzierung ist flexibler
Indem die beiden FHs bei der Finanzierung ihrer Pilotfabriken das BMVIT weitestgehend meiden, „sind wir flexibler“, ist Kastner überzeugt. „Wir haben die fünf Millionen Euro, die wir brauchen, unter anderem aus Mitteln von EU und Land Oberösterreich sowie mit Hilfe von Forschungsprojekten aufgebracht“, erklärt er den Unterschied zu seinen universitären Schwestern. Auch Industriebetriebe seien wichtig und mit an Bord, sie finanzieren jene Tätigkeiten, die nicht durch Forschungsprojekte ausfinanziert sind. Einen ähnlichen Weg geht Erich Markl, Leiter des Instituts für Advanced Engineering Technologies der FH Technikum Wien und Projektleiter der digitalen Fabrik, bei der Finanzierung seiner Pilotfabrik. „Wir finanzieren uns durch Sponsoring der Industrie.“ Und diese stellt – und das kann sich sehen lassen – am FH Technikum mittlerweile einen Wert von rund 1,5 Millionen Euro zur Verfügung. Zur Deckung der restlichen Kosten setzt Markl auf Forschungsprojekte.
Wie sich die Fabriken finanzieren
Spannend wird es bei den drei großen Pilotfabriken übrigens nach drei Jahren Laufzeit, denn dann enden die jeweiligen Förderperioden. Ganz wie ein echtes Unternehmen müssen sie sich dann selbst finanzieren. Die Erste, die das trifft, ist Wien. Dort laufen 2018 die Förderungen aus. Für Siemensianer und Industrie-4.0-Plattform-Chef Kurt Hofstädter ist klar: Es gilt das passende Geschäftsmodelle zu finden. Grenzen sind dem keine gesetzt. „Es ist die volle wirtschaftliche Nutzung erlaubt“, versichert der BMVIT-Mann Hegny. Forschungsprojekte, das Bereitstellen von Expertise, Schulungsangebote sowie Forschungsaufträge und Nutzungsverträge mit Unternehmen sollen die Kassen füllen. Auch mit Mitgliedschaften wollen die Pilotfabriken Geld verdienen oder, wie es Wilfried Sihn nennt, „einen Elite-Innovationszirkel etablieren“.
Bitte kein Museum Industrie 4.0
Die Wirtschaftlichkeit ist allerdings nur eine der vielen Herausforderungen, denen sich die Pilotfabriken stellen müssen. „Für den Erfolg wird auch ganz wesentlich sein, dass sie zu keinem Museum werden“, warnt Sihn. Up to Date bleiben lautet die Devise, schließlich müsse der Industrie 4.0-Standard so praxisnah wie möglich erlebbar sein. Einfach werde das angesichts des raschen technologischen Fortschritts jedoch nicht. JKU-Rektor Lukas sieht noch weitere Herausforderungen, und zwar in der
Abstimmung der Innovationssysteme in den Produktionsketten sowie in der IT-Sicherheit. Dieses breite Aufgabenportfolio, das die drei Pilotfabriken abdecken müssen, zu bewältigen, „wird nicht einfach sein“, glaubt auch Industrie-4.0-Plattform-Geschäftsführer Roland Sommer. Schließlich müssten die Pilotfabriken forschen, aus- und weiterbilden und mit Unternehmen kooperieren. Ein äußerst kniffliger Spagat. (eb/ur)
Pilotfabrik Wien
Wer sie betreibt: TU Wien, Institut für Fertigungstechnik, Institut für Managementwissenschaften, Institut für Maschinenbauinformatik und virtuelle Produktentwicklung
Partner: 22
Was sie zeigt: Mensch-Maschinen-Kollaboration, IoT-Anwendungen, Cyber-physikalischer Produktionssysteme, robotergestützte flexible Fertigungszellen, „leane“ Logistik, autonomen Transportsystemen, Predictive Maintenance
Was sie produziert: Kunststoff 3D-Drucker in mehreren Varianten
Finanzierung: 4 Mio. Euro ( 2 Mio. BMVIT, 2 Mio. TU Wien & Industriepartner)
Förderzeitraum: 2015 bis 2018
Erstbetrieb: Februar 2017
Mitarbeiter: Derzeit über 15, im Normalbetrieb 2-3 plus 6 Studenten
Pilotfabrik Linz
Wer sie betreibt: Johannes Kepler Universität Linz, Linz Institute of Technology
Partner: 23
Was sie zeigt: Leichtbau, Aufbereitung von Kunststoffabfall, Tape Extrusion, Tape Spritzguß, Recycling und Recompounding
Was sie produziert: Getriebebefestigungsträger
Finanzierung: 8,2 Mio Euro (BMVIT: 2 Mio., JKU und Industrie: 3,7 Mio., Land OÖ, Stadt Linz für Errichtung des Gebäudes: 2,5 Mio.)
Förderzeitraum: 2018 bis 2019
Erstbetrieb: 2019
Mitarbeiter: Im Vollbetrieb 25
Pilotfabrik Graz
Wer sie betreibt: TU Graz, Institut für Fertigungstechnik
Partner: 20 (13 davon mitfinanzierend)
Was sie zeigt: Losgröße 1 Fertigung, Variantenmanagement, Big Data Analytics, Virtuelle Inbetriebnahme, Predictive Maintenance, Data Security , Mobile Arbeitsstationen
Was sie produziert: Präzisionsgetriebe für Roboter und E-Mobilitätsanwendungen
Finanzierung: 6,42 Mio. (BMVIT: 2 Mio. Euro, Industrie: 1,82 Mio., TU Graz für die Errichtung des Gebäudes: 2,6 Mio.)
Förderzeitraum: 2017 bis 2020
Erstbetrieb: Frühjahr 2018
Mitarbeiter: derzeit 5, im Vollbetrieb bis zu 15
FH-Pilotfabrik Oberösterreich Campus Wels
Betreiber: Instituts für intelligente Produktion an der FH OÖ am Campus Wels
Start: September 2017
Schwerpunkt: Generative Fertigung von Metallbauteilen vor allem für die Automobil- und Flugzeugbranche, aber auch die Medizintechnik
Finanzierung: 5 Mio. Euro (EU, Land OÖ, Industrie und Forschungsprojekte)
FH-Pilotfabrik Technikum Wien
Betreiber: Institut for Advanced Engineering Technologies
Start: April 2016
Schwerpunkt: Virtuelle Vernetzung von Robotern am Beispiel einer Montage von Achslagerböcken
Finanzierung: 1,5 Mio. Euro (Industriepartnern, Forschungsprojekte)