Time Sensitive Networks : Wie TSN die industrielle Kommunikation aus den Angeln hebt
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Wir wissen, dass für die Steuerungssysteme in der industriellen Kommunikation besondere Anforderungen herrschen. Läuft zum Beispiel auf einem IT-System eine Analysesoftware, so ist ein offener Zugang zu allen notwendigen Daten für die Kommunikation weitaus wichtiger als eine tatsächliche Echtzeit-Garantie. Auf ganz natürliche Weise haben solche unterschiedlichen Anforderungen zu einer strikten Abgrenzung zwischen Netzwerken für Maschinensteuerung und Unternehmensanwendungen geführt. Sicherheit und Performance bleiben zwar gewahrt, aber qualitative Defizite im Datenaustauschs sind hinzunehmen. Denn wenn über die Nutzungszeit hinweg noch eine Reihe von neuen Funktionen und Geräte hinzukommt, ist die logische Konsequenz: Es werden noch mehr Netzwerke mit zueinander inkompatiblen Protokollen installiert. Wer die Vision von Industrie 4.0 also wahr werden lassen will, braucht offene bzw. herstellerunabhängige Kommunikationsplattformen. Mit dem Standard TSN (Time-Sensitive Networking) soll nun eben so eine neue Kommunikationstechnologie geschaffen werden, die das Ziel verfolgt, dieses „Netzwerk-Durcheinander“ zu beseitigen.
Optimierte Uhrensynchronisation
Was vor ein paar Jahren noch illusionär war, wird nun bald in den Arbeitsgruppen der IEEE 802.1 Time Sensitive Network (TSN) Realität. OPC UA TSN ist ein einheitlicher Standard, der Maschinen untereinander und mit übergeordneten Systemen wie zum Beispiel SCADA, MES- und ERP-Systemen sowie der Cloud verbindet. Für die Datenübertragung in Echtzeit per Ethernet ist bereits ein Standard im Einsatz: das Audio-Video-Bridging (AVB). Dieser Standard garantiert eine Zustellung innerhalb von 2 ms über maximal sieben Hops im Netzwerk einer AVB-Cloud. Das AVB wird schon seit einiger Zeit in der Audio- und Videobranche angewandt, wo z. B. bei großen Musik- oder Sportveranstaltungen Audio-, Video- und Lichtinstallationen über weite Distanzen synchronisiert werden müssen. Dadurch wird sichergestellt, dass Latenzen im Bereich der Schallausbreitung mit den anderen Video- und Lichteffekten kompensiert werden und für den Beobachter zeitgleich erscheinen. Für diese Anwendungen hat sich Ethernet-AVB bereits bestens bewährt. Auf Basis dieses Standards setzen die Entwicklungen von TSN auf. Mit an Bord: Automatisierungs- und IT-Unternehmen wie ABB, Bosch Rexroth, B&R, Cisco, General Electric, Kuka, National Instruments (NI), Parker Hannifin, Schneider Electric, SEW-Eurodrive und TTTech. Zehn unterschiedliche Sub-Standards sind bei TSN vorgesehen, die verschiedene Prinzipien zur Behandlung und Priorisierung des Netzwerkverkehrs bestimmen sollen.
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Wichtigste Sub-Standards
Die einzelnen Sub-Standards der TSN-Technologie lassen sich in drei Kategorien einteilen. Jeder einzelne Sub-Standard dieser Kategorien kann zwar für sich genutzt werden, jedoch erst in einem konzertierten Einsatz erlangt ein TSN-Netzwerk seine optimale Performance. Zu den drei Kategorien gehören: Zeitsynchronisation, Scheduling und Traffic-Shaping sowie die Auswahl der Kommunikationspfade, Reservierungen und Fehlertoleranz. (siehe extra Kasten) Zu den wichtigsten Prinzipien gehören die Zeitsynchronisation, die Synchronisierung der Uhren aller angeschlossenen Teilnehmer, sowie die Frame-Unterbrechung. Damit können wichtigere Nachrichten bevorzugt und weniger wichtige bei der Übertragung unterbrochen werden. Um die Redundanz sicher zu stellen, kann TSN auch Datenpakete duplizieren und später an einer bestimmten Stelle im Netzwerk wieder zusammensetzen. Redundanzen werden hergestellt, um z. B. Kabelbrüche zu kompensieren. TSN lässt zudem alternative Pfade mit direktem Schaltvorgang zu und stellt eine nahtlose Redundanz bei mehreren gleichzeitig übertragenen Datenströmen sicher.
Echtzeit Ethernet für wichtige Funktionen
Aus diesem Grunde wird die TSN-Technik auch im Bereich Automotive eingesetzt. Hier überbrückt TSN Entfernungen von 30 m mit 5 Hops und kommuniziert mit über hundert elektronischen Steuergeräten (ECU), Sensoren und Aktoren. „Das Standardisierungsgremium hinter der IEEE 802 hat das Ethernet selbst spezifiziert. Nun wird innerhalb der IEEE 802 eine standardisierte Echtzeit-Ethernet-Lösung erarbeitet. Das garantiert eine sehr breite technische Akzeptanz,“ sagt Oliver Kleineberg, Manager Advance Development bei der Hirschmann Automation and Control. „Dies führt zu einer hohen Investitionssicherheit und niedrigen Geräte- und Gesamtsystemkosten, da alle Geräte- und Chiphersteller die Technologie übernehmen werden.“ Somit wird eine Echtzeit-Kommunikation per Ethernet auch für sehr anspruchsvolle Anforderungen wie zum Beispiel Motion Control und Safety sichergestellt.
Mobile und immobile Knoten
Maschinen müssen synchron zu deren Bewegungen häufig im Bereich von Millisekunden von einer Software gesteuert und geregelt werden. Industrie 4.0 konfrontiert also die Produktion mit zwei weiteren bis dato nicht lösbaren Anforderungen: Da sich die Computerleistung bzw. Netzwerkbandbreite alle 18 bis 24 Monate quasi verdoppelt, ist es nicht mehr angezeigt, alles in komplexen, zentralen Steuerungen mit verschiedenen Betriebssystemen und Hypervisoren zu bündeln. „Wir müssen die Aufgaben auf kleine, einfach beherrschbare, vernetzte Knoten verteilen und so genannte holonische Produktionssysteme bilden“, erklärt Heinrich Munz, Senior Developer System Engineering bei Kuka. „Dezentralisierung unten auf dem Plant Floor und Zentralisierung durch Web-Services oben in der Cloud lautet die 4.0-Devise.“
Selbst konfigurierend
Hinzu kommt, dass der eine oder andere Knotenpunkt in Zukunft nicht mehr durch einen fixen Ort definiert, sondern sich mobil bewegen und an Haltestationen in Echtzeit mit den immobilen Stationen kommunizieren wird. Zum Beispiel transportiert ein mobiler Roboter das Werkstück an einen Arbeitsplatz, wo ein fest installierter Roboter es weiterbearbeitet. Mittels synchronisierter Bewegungen bearbeiten dann beide Roboter das Werkstück. Dieser Ablauf ist bislang nur mit Feldbussen in Echtzeit-Kommunikation darstellbar. Solche Aufgaben sind aber den modernen Anforderungen an serviceorientierter Steuerungskommunikation wie z. B. Peer-to-Peer nicht gewachsen. Insbesondere ist ein gewaltiger Engineering-Aufwand für die statische Konfiguration der Kommunikationsteilnehmer erforderlich. „Moderne Netzwerke zeigen uns, dass selbst in komplexen Ad-hoc-Netzwerken wie etwa Ethernet oder WiFi in Büros oder Hotels keine manuelle Konfiguration mehr notwendig ist, um die Kommunikation von mobilen mit beliebigen anderen Teilnehmern zu ermöglichen“, so Munz. „Das Industrie-4.0-Stichwort heißt Self-X. Wobei das X hier mit Configuration zu ersetzen ist, also Self-Configuration.“
‼️ ☝🏽 Ist TSN das Ende des Feldbus?
Im Grunde kann TSN heute schon eine Vielzahl der Aufgaben von Feldbussen abdecken. Ihr großer Vorteil: Ethernet ist kostengünstig, schnell, flexibel, sicher und einfach zu bedienen. Jedoch ist es die Möglichkeit, dem Netzwerkdurcheinander ein Ende zu setzen, die reizt. Sprich: Eingesetzte Netze durch eine gemeinsame Technologie zu integrieren und Insellösungen zu ersetzen. Damit sollen endlich einheitliche Werkzeuge für Planung, Optimierung und Wartung betreibbar werden. Ob das das Ende von Feldbussen einläutet, Experten meinen „Nein“. Feldbusse werden mit ihren spezialisierten Funktionen weiterhin in abgegrenzten Anwendungsfällen einsetzbar sein. Gemischte Architekturen mit TSN-Ethernet und Feldbus-Verbindungen werden also auch noch in Zukunft das virtuelle Bild von Industrieproduktionen abbilden. Aber Fakt ist: TSN ergänzt entscheidende Funktionen für die Automatisierung und wird daher die Verbindung der Ethernet-basierenden IT-Welt und Automatisierungstechnologie weiter beschleunigen.
Was die drei TSN-Kategorien der Sub-Standards sind
1. Zeitsynchronisation: Verglichen mit dem Standard Ethernet nach IEEE 802.3 und Ethernet Bridging nach IEEE 802.1Q liegt der Fokus bei TSN auf der Zeit. Als Voraussetzung für ein funktionierendes TSN-Netzwerk mit getakteter Ende-zu-Ende-Übertragung, Echtzeitanforderungen und fixen Zeitobergrenzen braucht jeder Teilnehmer eine so genannte „eigene Uhr“. Darüber hinaus müssen alle Teilnehmer, Endgeräte und Ethernet-Switches synchronisiert sein. Dadurch orientieren sich alle Teilnehmer an dem gleichen Kommunikationszyklus und führen zur richtigen Zeit die gewünschten Aktionen aus.
2. Scheduling und Traffic-Shaping: Bei der Bearbeitung und Weiterleitung von Netzwerkpaketen müssen alle Teilnehmer nach den gleichen Regeln arbeiten. Das Scheduling und Traffic-Shaping lässt auf einem Netzwerk gleichzeitig unterschiedliche Verkehrsklassen mit den verschiedensten Anforderungen an Bandbreite und Zeittreue zu. Standard Bridging nach IEEE 802.1Q umfasst acht Prioritäten, die genau strukturiert sind.
3. Auswahl der Kommunikationspfade, Reservierungen und Fehlertoleranz: Die TSN-Technologie fügt der Ethernet-Kommunikation weitere Übertragungscharakteristiken mit Echtzeitanforderungen hinzu. Die acht Prioritäten des Ethernet-Frame-Formats bleiben davon unberührt.