Digitalisierung : Wie startet man Digitalisierungsprojekte in der Produktion, Herr Künstner?
Herr Künstner, Sie beraten Industrieunternehmen hinsichtlich digitaler Transformation. Wo beginnen Sie da eigentlich?
Markus Künstner: In der Regel starten wir mit den Fachbereichen auf Use-Case-Ebene. Wenn man so will, in der Welt der OT. Sobald klar ist, welche Problemstellung wir adressieren, beginnen wir mit einer Werksbesichtigung und -analyse. In jedem Industriebetrieb gibt es Menschen, die die Anlagen in und auswendig kennen. Von ihnen lassen wir uns zeigen, was die Anlage macht und wie genau sie funktioniert. Natürlich auch, welche Macken in der Anlage stecken.
Sie beginnen nicht in der IT?
Künstner: Die IT-Abteilung holen wir zum richtigen Zeitpunkt an Bord. Wir übernehmen in den Projekten auch die Moderatoren-Rolle. Wir bringen sowohl IT- als auch OT-Expertise mit. Das ist ein kritischer Aspekt, den man für die erfolgreiche Umsetzung von Projekten abdecken muss.
IT und OT sprechen nicht immer miteinander …
Künstner: Das stimmt, obwohl ich hier durchaus einen positiven Wandel sehe. Immer mehr IT-Abteilungen bringen sich gestalterisch in die Digitalisierung am Shopfloor ein. Man muss aber auch konzedieren, dass viele IT-Leiter infolge der knappen Ressourcen ihrer Abteilungen gar nicht die Möglichkeit haben, solche Projekte loszutreten. Daher kommt die Zündung meist aus den Fachabteilungen am Shopfloor oder aus der Führungsebene.
Wenn IT und OT miteinander sprechen, dann nicht immer in der gleichen Sprache.
Künstner: Auch das stimmt. Ich habe schon Projekte erlebt, bei denen Datenplattformen vorbildlich aufgebaut wurden, in denen alle relevanten Produktionsdaten zusammenliefen. Das Problem lag dann darin, dass mit der Komplexität nur einzelne Data Scientists umgehen konnten. Wie soll sich ein Instandhaltungsleiter so die Ursachen von Fehlerzuständen erklären? Oder der Produktionsleiter den Grund für eine Reduktion des Produktionsvolumens? Man muss den Stakeholdern die Daten und abgeleiteten Informationen so zur Verfügung stellen, dass sie damit in der Praxis arbeiten können.
Treffen Sie hinsichtlich Digitalisierung auf zu hohe Erwartungen?
Künstner: Nicht unbedingt, die Erwartungshaltungen sind durchaus realistisch. Die ersten Schritte jedoch oft zu groß gewählt. Beispielsweise wird Predictive Maintenance immer wieder als erstes Digitalisierungsprojekt am Shopfloor vorgeschlagen. Jedoch fehlt dafür oft die Datenbasis in ausreichender Qualität und Quantität. Die grundlegende Frage, ob der Anwendungsfall überhaupt der richtige Einstieg ist und welchen Nutzen man sich daraus erwartet wird initial meist übersehen. Zusammengefasst ist das Delta zwischen dem Ist- und dem Soll-Zustand vielen zu Beginn nicht klar. Beides muss definiert werden, und dabei helfen wir unseren Kunden. Der Einstieg zur Ermittlung des Ist-Zustandes auf Basis von Daten ist in vielen Fällen das Condition Monitoring. An diesem Punkt trennt sich dann die Spreu vom Weizen, wenn man Transparenz auf Datenbasis mit verständlichen Visualisierungen dem Bauchgefühl langjähriger Mitarbeiter gegenüberstellt.
Das Bauchgefühl ist aber doch auch ein Wert.
Künstner: Ja natürlich, immerhin handelt es sich dabei um langjährige Erfahrungen der Mitarbeiter, von denen man viel lernen kann. Ich kenne auch diese Menschen, die anhand von Geräuschen, die andere gar nicht bemerken, genaue Diagnosen über den Zustand einer Maschine oder Anlage stellen können. Wenn sie das Unternehmen verlassen, nehmen sie allerdings auch ihren gesamten Erfahrungsschatz mit. Man kann die meisten Signale einer Anlage relativ einfach messbar machen. Und damit das Bauchgefühl in Transparenz und Fakten umwandeln.
Kommt es vor, dass Ihre Projekte komplett die Richtung ändern?
Künstner: Das geschieht gar nicht so selten. Man startet etwa mit dem Stichwort Predictive Maintenance, bemerkt dann aber in der Analyse sehr schnell, dass das größte Optimierungspotenzial gar nicht in den Stillstandzeiten der Anlage liegt, sondern beispielsweise im Durchsatz oder in der Menge des Ausschusses. Deshalb ist es uns wichtig, Anlagenoptimierungen immer bezogen auf den OEE zu betrachten. Und ebenso, einen End-to-End-Ansatz zu verfolgen, der von der Konzeption bis zu Umsetzung und Betrieb alle Phasen abdeckt. Hier haben wir übrigens bei der Digitalisierung unseres eigenen Unternehmens sehr viel gelernt.
Ist nicht auch ein Problem der digitalen Transformation, dass hier immer wieder Hypes entstehen und man gewissermaßen abwarten muss, ob ein Thema die Gartner-Kurve überlebt?
Künstner: Das konnte man beim Thema Predictive Maintenance recht gut beobachten: In der Anfangsphase haben sich viele jenen Problemen verschrieben, die möglichst komplex waren. Man hat den vermeintlichen Schmerzpunkt einer Anlage gesucht, der im Falle eines Problems potenziell hohe Kosten verursacht und dafür Lösungen der Vorhersage gesucht – selbst, wenn es sich um ein Ereignis handelt, das vielleicht nur alle zehn Jahre eintritt. Solche Projekte waren dann oft zum Scheitern verurteilt – da fehlen sowohl Daten als auch die Geduld.
Predictive Maintenance hat nun eine deutlich solidere Phase erreicht. Es wird gesamtheitlicher. Man betrachtet nicht mehr nur die eine große Schmerz-Komponente, sondern die vielen kleinen Punkte, die in ihrer Gesamtheit Zeit, Effizienz und Geld kosten. Die gewonnenen Daten dienen zudem nicht nur der Instandhaltung im engeren Sinne, sondern der Optimierung der Produktion. Und damit nicht zuletzt der Auflösung der Konflikte zwischen Produktion und Instandhaltung.
Wie meinen Sie das?
Künstner: Ich denke, dass sich die Kompetenzen am Shopfloor zunehmend überschneiden werden, die Trennlinien werden in meinen Augen schwächer. Wenn Instandhaltung und Produktion eine gemeinsame Datenbasis haben, werden die Abteilungen auch stärker kooperieren. Instandhaltung wächst immer stärker mit der Produktionsplanung und Auslastungsplanung zusammen. Oft hat die Produktion die Instandhalter nur gerufen, wenn eine Störung auftrat, die sie selbst nicht beheben konnten. Ansonst haben sie oft kein Wort gewechselt. Das mag ein wenig eine Generationenfrage sein, aber ich bin davon überzeugt, dass sich dieser Aspekt auch durch die Digitalisierung immer schneller verändert. In der Praxis arbeiten immer häufiger Produktionsleitung, Werksleitung, Instandhaltungsleitung und Qualitätssicherung zusammen, um das Gesamtsystem zu optimieren.
Wie begegnen Sie dem Argument, digitale Transformation solle letztlich zu Mitarbeiterabbau führen?
Künstner: Diesen Wunsch höre ich ehrlich gesagt fast nie. Nahezu allen Unternehmen geht es darum, mit der bestehenden Mannschaft die Produktivität zu erhöhen. Ich möchte das Argument eher umdrehen: Unternehmen, die sich in diesem Bereich nicht weiterentwickeln, werden immer mehr Probleme bekommen, Mitarbeiter für die Produktion anzuwerben. Auch deren Qualifikation steigt, und sie erwarten immer mehr, dass Betriebe ihnen digitale Mittel und Werkzeuge zur Verfügung stellen. Auch aus diesem Grund müssen sich Industriebetriebe intensiv mit Digitalisierung befassen.
Zur Person
Der studierte Informatiker Markus Künstner leitet seit 2019 den Bereich Business Consulting Manufacturing bei Kapsch BusinessCom und ist mit seinem Team maßgeblich für das Vorantreiben von Digitalisierungsprojekten mit Industrieunternehmen in der DACH-Region verantwortlich.