Werkzeugmaschine 4.0 : Wie 50 Digitalisierer Schaeffler Industrie 4.0-fit machen
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FACTORY: Wer auf Google „Werkzeugmaschine 4.0“ eingibt, erhält in nur 0,53 Sekunden 158.000 Ergebnisse. Den Löwenanteil davon besetzt Schaeffler. Herr Henkel, die Werkzeugmaschine 4.0 ist hoffentlich mehr als ein PC mit Spindel?
Roberto Henkel: Sagen wir so, es ist immer noch eine klassische Werkzeugmaschine, aber der Grad der Digitalisierung ist bei unserer Maschine deutlich höher als bei einer klassischen. Mehr Intelligenz durch smarte Produkte, datenbasierte Services und die Interaktion mit einem digitalen Ökosystem erweitern den Funktionsumfang dieser Anlage deutlich.
Wird künftig also die Software über Erfolg oder Misserfolg einer Maschine entscheiden?
Davon bin ich überzeugt. Rein mechanische Differenzierungsmerkmale, wie z. B. Bearbeitungsgenauigkeit oder -geschwindigkeit, müssen für nachhaltigen Erfolg um Software und digitale Services ergänzt werden.
Weil nicht nur Europäer in der Lage sind, Hochpräzisionsmaschinen zu bauen?
Die Fragen, die sich jeder Werkzeugmaschinenhersteller stellen sollte: Kann sich meine Werkzeugmaschine in ein fremdes digitales Ökosystem integrieren? Kann ich damit zusätzliche Funktionen zur Verfügung stellen? Mittelfristig wird es darauf hinauslaufen, dass wir uns nur mehr über die Software und Servicequalitäten im internationalen Wettbewerb differenzieren werden können.
Der Grad der Digitalisierung manifestiert sich in einem Netzwerk, das Schaeffler mit Hilfe einer Cloud-Infrastruktur von IBM schuf. Brauchen Fertigungsbetriebe zwangsläufig einen IT-Konzern als Partner, um die Digitalisierung meistern zu können?
Es muss nicht zwangsläufig ein Partner in dieser Dimension sein. Aber wer heute über Digitalisierung und Industrie 4.0 redet, spricht von Services, die Cloud-basiert angeboten werden, und dafür braucht es eine andere Infrastruktur als die etablierte. Die Notwendigkeit einer hohen Umsetzungsgeschwindigkeit und notwendige Technologie machen Partnerschaften zwischen etablierten Maschinenbauern und IoT-Unternehmen unverzichtbar.
Diese Infrastruktur selbst aufzubauen ist unrealistisch?
Nicht unrealistisch, im Gegenteil, es hat große Vorteile. Aber das wird sich ein mittelständisches Unternehmen – so realistisch muss man sein – in den seltensten Fällen leisten können und wollen.
Jeder Fertigungsbetrieb sollte also darüber nachdenken, seine Fertigung in die Cloud zu geben?
Jeder sollte sich die Frage stellen, ob die IT-Infrastruktur, die er heute betreibt, die Basis sein kann für eine datenbasierte Wertschöpfung. Sollte die Antwort „nein“ oder „nur zum Teil“ sein, dann muss dringend darüber nachgedacht werden, sich infrastrukturell anders aufzustellen. Ob das immer die komplette Endausbaustufe sein muss, also alles Cloud-basiert, das muss jedes Unternehmen für sich entscheiden. Es gibt da kein Schwarz oder Weiß.
Wird nicht gerade beim Thema „Echtzeit in der Cloud“ oft mit Halbwissen argumentiert?
Das stimmt. Dieser Begriff wird allzu gerne verwendet. Man muss schon differenzieren, was davon im Produktionsalltag Sinn macht. Für mich bedeutet Echtzeit „so schnell, wie für die Anwendung bzw. den benötigten Service eben notwendig“. Cloud-Technologie hat hier sicherlich großes Potential.
Es brauchen also nicht alle Anwendungen und Services eine hochverfügbare, kontinuierliche Datenverbindung in die Cloud?
Je stabiler die Datenverbindung, desto besser natürlich. Trotzdem sehen wir über sogenannte Edge-Computer die Möglichkeit, Daten direkt an unseren Produkten zwischenzuspeichern und vorzuverarbeiten. So können wir selbst bei schlechter Datenverbindung sicherstellen, dass keine Brüche in den notwendigen Datenbeständen entstehen und damit die Basis für eine Datenanalyse gegeben ist.
Eine Cloud kann schnell zum Datenfriedhof werden. Wie gewinnt Schaeffler die Quintessenz der Daten, nach der so viele trachten?
Für uns steht im Bereich Operations immer die Frage im Vordergrund, wie uns digitale Technologien helfen können, einen positiven Beitrag zu Produktivität, Qualität und Liefertreue zu leisten. Auf dieser Basis bewerten wir all unsere Use Cases und Ideen, bevor wir in eine Umsetzung gehen. Gerade für Projekte z. B. auf Basis maschineller Lernieverfahren sind große Datenmengen elementar und unverzichtbar.
Was ist dann für Sie wichtiger: smarte Produkte oder eine smarte Produktion?
Ich bin ein Mann aus der Produktion, damit habe ich natürlich Fokus auf Letzteres. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass eine Produktion zukünftig smarte Produkte braucht, um überhaupt eine smarte Produktion realisieren zu können.
Sie sprechen von der intelligenten Linearführung?
Richtig. Ein Fokus von uns lag auf Wartung und Instandhaltung und wie wir diese durch digitale Hilfsmittel verbessern können. So entstand diese smarte Linearführung. Während in der Vergangenheit meist händisch an der Maschine nach fixen Zeitintervallen oder definierten Wegstrecken nachgeschmiert wurde, macht das unsere Linearführung völlig automatisiert. Sie schmiert nur noch dann, wenn die Maschine mithilfe von Schwingungssensorik auch den Bedarf dazu sieht.
Das spart vielleicht Schmierstoff, aber intelligent ist sie deshalb noch nicht.
Henkel: Der eigentliche Nutzen besteht auch darin, Beschädigungen und Ausfälle wirkungsvoll vermeiden zu können. Verschiedene Analysen zeigen, dass ca. 55 % aller Ausfälle in direktem oder indirektem Zusammenhang mit der Schmierung stehen, welche durch die sensorisierte Führung eliminiert werden können. Insofern kann man sehr wohl von einer intelligenten Linearführung sprechen.
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Zurück zur Werkzeugmaschine 4.0: Schaeffler hat am Standort Höchstadt einer Standardmaschine von DMG Mori 60 zusätzliche Sensoren verpasst, jedes Bauteil mit einem Identifizierungscode versehen – reicht das schon, um als digitaler Vorreiter zu gelten?
Diese Werkzeugmaschine hat einen explorativen Charakter und war unser erster Use Case. Wir wollten zeigen, was technisch möglich ist. Damit war die Anlage Wegbereiter für zahlreiche weitere Digitalisierungsprojekte.
Verraten Sie mir dieses gehobene Potenzial in Zahlen?
Wir konnten die Rüstzeit um rund 15 Prozent reduzieren und auch die Taktzeiten verringern. Das ist aber noch nicht das Ende der Fahnenstange. Diese Werkzeugmaschine 4.0 ist per se keine einzelne Maschine, sondern vielmehr eine Fertigungszelle mit viel Peripherie …
… der Grund, warum Sie in Höchstadt mittlerweile von einer Fertigungslinie 4.0 sprechen?
Richtig. Wir haben die Fertigungszelle bereits um eine weitere Maschine erweitert und investieren aktuell in eine weitere Fertigungslinie bestehend aus mehreren Werkzeugmaschinen.
Die neue Werkzeugmaschine ist wieder von DMG Mori?
Nein, wegen der erforderlichen Bearbeitungstechnologie ist diese von einem anderen Hersteller.
Aber wäre das, was Sie zusammen mit DMG Mori geschaffen haben, nicht ein Ansatz für ein neues Geschäftsmodell?
Ja, ganz klar. Wir sind nach wie vor im intensiven Austausch und stellen uns gemeinsam die Frage, wie wir die Kompetenzen eines Komponenten- und Systemlieferanten mit denen eines Maschinenbauers zu neuen Geschäftsmodellen vereinen können. Das geschieht aber auch mit anderen Herstellern.
Und die Anbindung von unterschiedlichen Maschinenherstellern funktioniert tadellos?
Unser Fokus liegt ganz klar auf dem Thema Skalierbarkeit. Das heißt, wir wollen eine standardisierte Anbindungslogik an unser digitales Ökosystem schaffen. Mit der Werkzeugmaschine 4.0 haben wir sehr viel gelernt und das Ergebnis ist eine Art Standard-Konnektor. Mit diesem können wir Maschinen mit ähnlicher Konfiguration wesentlich schneller und effizienter an unser Netzwerk anbinden.
Und dieser Standard-Konnektor macht auch alte Modelle anbindbar?
Ja, die Strategie, mit Standard-Konnektoren zu arbeiten, hat sich bis dato bewährt.
Wollen Sie also bis Ende des Jahres alle Anlagen angebunden haben? Immerhin reden wir von mehr als 15.000 Maschinen im Schaeffler-Produktionsverbund.
Nein, in so kurzer Zeit wäre das unrealistisch. Das ist auch gar nicht unser primäres Ziel. Wir wollen zuerst Use Cases identifizieren, die durch Digitalisierung einen Beitrag zu Produktivität, Qualität und Liefertreue leisten können. Ausgehend von diesen binden wir immer mehr Maschinen an die digitale Plattform an.
Wie steht es da um den Standort Berndorf?
In Berndorf sind wir gerade dabei, eine gesamte Produktionslinie zu sensorisieren und bis Ende des Jahres an unser digitales Ökosystem anzubinden. Der Fokus liegt dabei zuerst auf Energieeffizienz. Im zweiten Schritt konnektieren wir dann bis zu 200 weitere Anlagen.
Das „digitale Ökosystem“ ist Teil einer Roadmap von Schaeffler. Wie viele Leute sind dafür eigens abgestellt?
In dieser sogenannten“ Koordinationsstelle Digitalisierung“ arbeiten derzeit rund 50 Kollegen. Bis 2020 planen wir aber schon 600 zu sein, die sich ausschließlich mit dem Thema Digitalisierung beschäftigen.
Diese 50 Digitalisierer, sind das klassische Schaeffler-Ingenieure?
Nein, die wenigsten Kollegen haben eine klassische Ingenieursausbildung. Die Fähigkeiten spannen sich über Themen wie Datenarchitektur, Datenanalyse sowie Digitale Businessmodelle und bauen in der Regel auf mathematischen, technischen und naturwissenschaftlichen Ausbildungen auf. Wir müssen mit Blick auf die Umsetzungsgeschwindigkeit anders arbeiten als die klassische Organisation. Wir arbeiten als Kernteam mit dem klaren Auftrag, die digitale Transformation bei Schaeffler voranzutreiben.
In der Vergangenheit gaben Sie einmal zu, „Power-Point Industrie 4.0“ schaffe keinen Mehrwert. Was meinten Sie mit dieser Aussage?
Es gibt viele eindrucksvolle, bunte und begeisternde Präsentationen zum Thema Industrie 4.0. Viele der gezeigten Inhalte existieren aber eben nur auf dem Papier. Das hat mich extrem gestört, weil es der Dynamik von Industrie 4.0 nicht gerecht wird. Als wir begonnen haben, die Werkzeugmaschine 4.0 zu entwickeln, haben wir uns geschworen, dass wir die viel diskutierte Vision von Industrie 4.0 in die Realität umsetzen werden – und das ist uns, wie ich finde, sehr gut gelungen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Elisabeth Biedermann
Zur Person: Roberto Henkel (33) leitet bei Schaeffler den Bereich „Digitalization Operations“ und ist für die weltweite Koordination der Digitalisierungsaktivitäten im Produktionsumfeld verantwortlich. Er ist Ingenieur und seit 13 Jahren in unterschiedlichen Positionen rund um die Produktion bei Schaeffler tätig. Zuletzt als Leiter für das Segment Genauigkeitslager, in dem auch die Werkzeugmaschine 4.0 zum Einsatz kommt.
Alle Fakten zur Werkzeugmaschine 4.0
Was: Eine Fertigungszelle, bestehend aus einer Standard-Werkzeugmaschine (DMC80 FD) von DMG Mori, flankiert von einem Messsystem und einem integrierten Werkzeugeinstellsystem, angebunden an eine smarte Logistikkette
Im Einsatz seit: 2015
Aufgabe: Präzisionsweichbearbeitung von großen, kundenspezifischen Wälzlagerringen mit Gewinden, Fräsbearbeitung, Passungen
Zusätzlich verbaute Sensoren: 60
Rüstzeiten im direkten Vergleich: minus 15 %
Digital genial, weil: Angebunden an die digitale Schaeffler-Plattform und dadurch datentechnisch völlig transparent