Leonhard Muigg : Warum Stücklisten einen digitalen Zwilling der Produktion gefährden
Weil Märkte schneller bedient werden müssen, steigen die Anforderungen an die Produktionssysteme. Bei einem oberösterreichischen Maschinenbauer löste das massive Änderungen hinsichtlich Montageabläufen aus. Da der Maschinenbauer zudem mit einem sinkenden Preisniveau kämpfte, wollte er Abläufe genauer planen. Eine echte Herausforderung. Bei einer ersten Prozessanalyse stellte sich nämlich heraus, dass die Fertigungsstückliste zwar existierte, man aber nicht wusste, wann und in welcher Reihenfolge die Teile an der Maschine verbaut werden. Die dafür vorgesehenen Arbeitszeiten existierten zwar im ERP-System, waren aber weit entfernt von jenen in der Praxis. Dem Controlling war es also nicht möglich die tatsächlichen Prozesskosten nachzuvollziehen. Das ist kein Einzelfall. Das A und O ist die Transformation von einer Teile- zur Prozessstückliste. Nur so kann die Digitalisierung ihr Optimierungspotenzial auch heben. Doch woran scheitert diese Transformation eigentlich?
Grund 1: Stücklisten
Das Ziel bleibt die Pflege und das Erfassen von Stammdaten.
Stücklisten sind beliebt, weil sie einfach abbildbar sind. Deshalb gibt es die verschiedensten Derivate von Stücklisten: die Konstruktionsstückliste, die Fertigungsstückliste, die Einkaufsstückliste, die Sevicestückliste usw.; Diese Listen können auch sehr elegant in den meist „dokumentorientierten“ ERP-Systemen abgebildet und verwaltet werden. Der Prozessplan ist aber damit nichts anderes als ein statisches Abbild von Fertigungsabläufen.
Grund 2: Abteilungsgrenzen
Fertigungsprozesse werden nur innerhalb von Abteilungen beschrieben. Synergiewirkungen? Fehlanzeige.
Es gibt zwar erste Bestrebungen Abläufe über Abteilungsgrenzen hinweg zu beschreiben, aber das endet meist nur in Schnittstellenbeschreibungen zur Datenübergabe. Wer einen Prozess beschreiben will, braucht drei Elemente: Die Teilestückliste, die Aufgaben- oder Operationsbeschreibung und die Zuordnung zur Ressource oder dem Werkzeug. Klar hat man alle diese Informationen bereits in digitaler Form in verschiedenen Systemen verfügbar, nur benötigt man eine höhere Flexibilität und Datenkonsistenz. Dieser Wechsel in den Entwicklungs und Planungsabteilungen entspricht zumindest dem des Wechsels vom Zeichenbrett zur 3D-Konstruktion am Computer.
Grund 3: Unwissenheit
Die Aneinanderreihung von in sich optimierten Bereichen ergibt noch lange kein Gesamtoptimum.
Es gilt die eigene Kernkompetenz in eine IT-Lösungsarchitektur einzubringen. Während der IT-Abteilung das Prozesswissen der einzelnen Fertigungsbereiche fehlt, mangelt es dem Planungs- und Fertigungsbereichen oft an IT-Wissen. Eine mehrdimensionale Betrachtungsweise eines neuen Datenmodells überfordert altbekannte Strukturen. Ein CDO (Chief Digital Officer) könnte helfen.
Grund 4: Gewohnheit
Wer einen digitalen Zwilling will, muss den Weg zur Prozessstückliste gehen und auch Änderungen in Arbeitsabläufen zulassen.
Zukünftig werden die verschiedensten Ausprägungen der Teilestückliste den Anforderungen der dynamischen Fertigung und auch den technischen Anforderungen der Produktentwicklung nicht mehr genügen. Denn Verfahren wie der 3D-Druck machen Teilestücklisten obsolet.
Grund 5: Lizenzmodelle
Es geht heute nicht mehr allein um Softwarelizenzen, sondern um Fachexpertise und Prozess-Know-how.
Die digitale Transformation setzt voraus, dass sich die Beziehungen zwischen den einzelnen Komponenten objektorientiert und im Idealfall auch eventorientiert verhaken. Mit dem Digital- Enterprise Approach verfolgt Siemens genau diese Philosophie. Datenmodelle brauchen eine holistische Denkweise über alle relevanten Abläufe hinweg. Diese Modelle müssen mit Systemlieferanten gemeinsam erarbeitet werden.