TMG-Studie : Warum Osteuropa keine verlängerte Werkbank mehr ist

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Für die deutsche Industrie sieht sich Osteuropa nicht mehr als günstiger Produktionsstandort, sondern als Partner auf Augenhöhe. Zu Recht: Dank der stabilen wirtschaftlichen Lage, gut ausgebildeter Fachkräfte und einer verbesserten Infrastruktur ist die Region inzwischen ein attraktiver Standort für Entwicklung und Innovation. Das ergibt eine Studie im Auftrag der TMG Consultants GmbH. Allerdings: die Potentiale sind regional sehr ungleich verteilt und Aufholbedarf besteht beim Thema Digitalisierung. Die Studie zeigt Chancen und Herausforderungen für Investitionen in Osteuropa, mit einem Fokus auf Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Serbien.

Noch immer gelten die Länder Mittel- und Osteuropas (MOE) vielerorts als sogenannte „Billiglohnländer“ für einfache Fertigungsprozesse – um die Jahrtausendwende eröffneten deutsche Unternehmen im großen Maßstab Produktionsstandorte, dank niedriger Löhne und einer großen Menge einfacher Arbeitskräfte. Die aktuelle Studie „Investieren in Osteuropa – Chancen und Herausforderungen der produzierenden Industrie“ der TMG Consultants zeigt: dieses Bild ist mittlerweile überholt. Für die Studie zogen die Autoren sowohl wirtschaftliche Daten heran, als auch die Aussagen von etwa 600 Osteuropa-erfahrene Führungskräfte aus dem Industrie-Sektor.

Mehr als Produktion: Osteuropa wird zum Partner für Entwicklung und Innovation

Das wichtigste Ergebnis der Studie: Investieren in Europa lohnt sich heute mehr denn je. Eine Reihe deutlich verbesserter Rahmenbedingungen sorgt dafür, dass die MOE-Region nicht mehr nur als Produktionsstandort interessant ist, sondern auch für Entwicklung und Innovation:

Die Wirtschaftliche Entwicklung ist stabil: Die MOE-Region hat in den vergangenen Jahren gegenüber ihren westlichen Nachbarn wirtschaftlich aufgeholt. Aktuell durchleben viele Länder sogar einen regelrechten Höhenflug: mit durchschnittlich vier Prozent ist das Wirtschaftswachstum in den östlichen EU-Ländern fast doppelt so hoch wie in Westeuropa.

Die Infrastruktur hat sich entwickelt: Deutliche Verbesserungen hat es in der jüngeren Vergangenheit bei der Infrastruktur gegeben. Fast überall wächst das Autobahnnetz und die Unternehmen profitieren von einer verbesserten Verkehrsanbindung, verkürzten Lieferzeiten und niedrigeren Logistikkosten. Auch die Werksversorgung mit Energie, Gas, Wasser, etc. bekommt von Industrieunternehmen aus dem Westen meist gute Noten.

Fachkräfte sind gut ausgebildet: Das allgemeine Bildungsniveau und die Fachkräfte-Qualifikation erhalten von Unternehmen aus dem Westen fast durchweg gute Noten. In Ländern wie Polen, Ungarn und Tschechien, die bereits seit 2004 der Europäischen Union angehören, treffen Unternehmen bereits auf Leistungsstandards und -niveaus, wie wir sie in Deutschland gewohnt sind. Dort ist auch eine qualitativ hochwertige Fertigung möglich.

Osteuropa auch als Absatzmarkt interessant: Die Lohn- und Arbeitskosten sind weiterhin niedrig, wenn auch nicht mehr so extrem wie früher. Für Industrieunternehmen aus dem Westen besitzt Osteuropa deswegen einerseits weiterhin für Produktionsverlagerungen oder neue Produktionsstätten einen hohen Stellenwert. Der gestiegene Lebensstandard macht die Region allerdings zusätzlich als Absatzmarkt zunehmend attraktiv. Dies betrifft nicht nur die Endverbraucher, sondern auch die Nachfrage seitens staatlicher Behörden oder öffentlicher Institutionen.

Zusätzlicher Anreiz durch EU-Förderprogramme: Überall werden derzeit spezielle Entwicklungsprogramme aufgelegt und Gelder freigegeben – etwa zur Erneuerung der Infrastruktur, zur Stärkung der regionalen Wettbewerbsfähigkeit oder für den Umweltschutz. Einige Länder – allen voran Ungarn, Polen und Tschechien – wissen gut mit EU-Förderprogrammen umzugehen und können ihre ohnehin gegebene Standortattraktivität dadurch weiter steigern.

Wo es noch Nachholbedarf gibt: Vier Fallstricke für Unternehmen

Als Folge der guten Bedingungen hat sich auch das Selbstverständnis der Verantwortlichen in den meisten Ländern Osteuropas gewandelt. Sie geben sich nicht mehr mit der bisherigen Rolle einer „verlängerten Werkbank“ zufrieden, sondern wollen sich mehr und mehr in Richtung eines Standortes für „Engineering-Dienstleistungen“ weiterentwickeln. Die Studie bestätigt der Region dieses Potential, sieht aber auch noch Nachholbedarf bei einigen Themen. Die Autoren nennen vier Fallstricke, die Unternehmen mit Investitionsabsichten beachten müssen:

Erstens: Fachkräftemangel auch in Osteuropa zu spüren

In den am weitesten fortgeschrittenen Ländern Tschechien, Polen und Ungarn bewegt sich die Arbeitslosigkeit mit knapp über oder unter vier Prozent auf einem ähnlich niedrigen Niveau wie in Deutschland. Qualifizierte Fachkräfte sind zumindest in den Hot Spots fast nicht mehr oder nur mit besonderen Anreizen zu bekommen. Wer in diesem Wettstreit um die besten Kräfte mithalten will, muss attraktive Arbeitsbedingungen bieten: Eine gute Bezahlung, ausgewählte Weiterbildungsangebote, eine zusätzliche Krankenversicherung oder Gesundheitsangebote, sowie eine professionelle Kinderbetreuung sind nur einige Beispiele. Gerne gesehen wird außerdem, wenn sich Unternehmen in geeigneter Weise sozial engagieren.

Zweitens: Digitalisierung & Innovationsmanagement hängen hinterher

Echtes Innovationsmanagement wird in osteuropäischen Standorten nur in Ausnahmefällen betrieben. Bei der Implementierung moderner Lösungsansätze zu „Industrie 4.0 & Digitalisierung“ hinken Unternehmen in Osteuropa ihren eigenen Wunschvorstellungen zudem deutlich hinterher. Automationslösungen und intelligente Robotertechnik sind in Osteuropa noch nicht sehr verbreitet. Die Chancen, die Robotik und eine verstärkte Automatisierung im Hinblick auf eine Verbesserung der Effizienz in der Produktion mit sich bringen, werden bis dato viel zu wenig genutzt.

Drittens: Effizienz-Steigerung und agile Arbeitsformen kommen gerade erst an

Viele Unternehmen, die schon seit längerer Zeit in Osteuropa einen Produktionsstandort betreiben, stehen mittlerweile vor der Herausforderung, ihre Effizienz weiter anheben zu müssen, um das geforderte internationale Wettbewerbsniveau zu erreichen. Im Vergleich zu Effizienz-Projekten im Westen ist in osteuropäischen Produktionsstandorten in den allermeisten Fällen wesentlich mehr Basisarbeit gefordert. Oft ist sogar ein grundlegender Kulturwandel im betreffenden Unternehmen und eine intensive Arbeit an „weichen“ Faktoren erforderlich. Dies gilt insbesondere, wenn agile Methoden oder ausgewählte Elemente des klassischen Lean Management eingesetzt werden sollen.

Viertens: Vor-Ort-Kenntnis ist unersetzbar

Jedes MOE-Land hat seine spezifischen Vor- und Nachteile und unterscheidet sich in seinem Entwicklungsstand zum Teil deutlich von dem seiner Nachbarn. Sogar innerhalb eines Landes können sich die Rahmenbedingungen für investitionswillige Industrieunternehmen aus dem Westen stark unterscheiden. Kenntnis der lokalen Gegebenheiten oder Kontakte vor Ort sind deswegen eine Voraussetzung.

Mit Hilfe der Ergebnisse der Befragung und den Erkenntnissen aus den persönlichen Interviews können Unternehmen besser einschätzen, welche Chancen und Herausforderungen es aktuell bei einem möglichen Osteuropa-Engagement gibt – und teure Fehlentscheidungen bei Investitionsprojekten vermeiden.

Über die Studie

Die aktuelle TMG-Studie „Investieren in Osteuropa – Chancen und Herausforderungen für die produzierende Industrie“ wurde zwischen Oktober 2017 und Mai 2018 durchgeführt. Die Studie basiert auf einer Online-Umfrage unter 600 produzierenden Unternehmen, die bereits mit einem Standort in Osteuropa vertreten sind, als auch auf neun Experten-Interviews mit lokalen Werksleitern von deutschen Investoren oder Vertretern von Wirtschaftskammern und -Verbänden. Die Studie zeichnet ein aktuelles Bild aus Unternehmenssicht zum Status und den zukünftigen Perspektiven zu Themen, die bei einer Standortentscheidung „pro oder contra Osteuropa“ grundsätzlich eine besondere Rolle spielen:

Aktuelle wirtschaftliche Entwicklung am betreffenden Standort

Arbeitsmarktsituation und die Verfügbarkeit benötigter Fachkräfte

Infrastruktur

Effizienz in der Produktion

Innovation und Nutzung neuer Technologien