Digitalisierungsfails : Warum Industrie 4.0-Schnellschüsse nerven

Jürgen Weiss
© Werner Harrer

Mache ich meinen Remote Service kostenpflichtig? Wie biete ich einen „Allinclusive-Service“ mit meinem Produkt an? Wie kann ich verschiedene Verrechnungsmodelle in neue Serviceverträge einbauen? Fakt ist, wer sich nicht mit diesen Fragen beschäftigt, hat keine Strategie und sieht auch den echten Nutzen nicht, nämlich den glücklichen Kunden. Ihr denkt jetzt, dass es heute keinen mehr gibt, der sich nicht Gedanken um seine Geschäftsmodelle macht? Falsch gedacht. „Don’t touch my running system“ wird immer noch praktiziert, eine völlige Fehlentscheidung. Gebt mir zehn Firmenchefs und ich mache jedem Einzelnen sein Geschäftsmodell kaputt. Nur so wird ihnen bewusst, dass der derzeitige Wandel viel mehr ist als nur das Tragen einer Hololens als Hightech- „Kundengoodie“.

Vergessen auf Service-Level-Agreements

Getrieben von der Digitalisierung hat ein großer österreichischer Maschinenbauer kürzlich eine Augmented-Reality-Lösung für seine Servicetechniker realisiert. Gehypt von der Marketingabteilung, entpuppte sie sich bald als technologischer Schnellschuss. Denn auch wenn dem Kunden dieser neue Service als äußerst schmackhaft verkauft wurde, hatte sich der Maschinenbauer keine Gedanken darum gemacht, wie er das zu Geld machen kann. „Vereinfachen Sie die Kommunikation mit ihrem Servicetechniker, sparen Sie sich lange Stillstandszeiten“, hieß es in den Werbebotschaften. Das Ironische in diesem Fall: Die Frage nach neuen Service-Level-Agreements kam schließlich vom Kunden selber. Dass also neue Technologien freilich enorme Auswirkungen auf jedes Geschäftsmodell haben, sollte bitte jedem klar sein, bevor er sich Hals über Kopf in diese Welt stürzt. Schon mal gefragt, warum solche Ansätze immer zuerst im After-Sales-Market aufschlagen? Richtig, weil hier noch am ehesten Fehler verziehen werden, wie dieses Beispiel klar zeigt.

Der Fail cleverer Systemintegratoren

Keine Angst, ich starte keine Vergleiche „Wer was wie“ richtig oder falsch macht. Aber was derzeit da draußen vorherrscht – und ich bin viel da draußen unterwegs –, ist nicht gerade das, was ich als digitalen Fortschritt bezeichnen würde. Eher ein Definitionskarussell gepaart mit gewaltigen Wortschlachten einer digitalen Transformation, die so nie und nimmer funktionieren kann. Nur allzu gern stürzen sich sogenannte Systemintegratoren auf „smarte“ Lösungen, die am Ende dann doch nicht so clever sind, wie kürzlich ein Logistikunternehmen enttäuscht zugeben musste. Nach langen Evaluierungen entschied man sich dort für die optisch bestens designte Datenbrille. Musste aber sehr schnell feststellen, dass es weder eine zertifizierte Integrationsmöglichkeit ins bestehende SAP-System gab noch die Verwendung am Shopfloor den Sicherheitsbestimmungen entsprach. So einfach kann man Innovationen in einem Unternehmen killen – autsch!

Verlierer 4.0

Nicht nur Start-ups verändern die „Old Economy“, fast monatlich werden neue Technologien am Markt gelauncht. So mancher Traditionsbetrieb kommt da nicht mehr hinterher und entsprechend händeringend suchen auch die ganz Großen nach neuen Wegen, die doch nur allzu oft im Kauf von Jungunternehmen enden. Österreichs Industrie mag zwar laut nach „Industrie 4.0“ und „Digitalisierung“ schreien, weiß aber im Grunde nicht so recht, was sie damit anfangen soll. Nur eines weiß sie ganz genau: Wer stehen bleibt und sich nicht weiterentwickelt, verliert. Und unter uns gesagt, wer ist schon gerne ein Verlierer?

Zur Person: Jürgen Weiss hat viel Erfahrung in IT-Konzernen gesammelt und ihnen allen den Rücken gekehrt. Heute steht er auf Hackathons und Digital Thinking: Als Vordenker zieht er der Enge klassischen Abteilungsdenkens kreatives Innovieren vor und berät damit große Industriebetriebe in ganz Österreich. Mehr Infos unter: » about.me/juergenweiss

👉🏽 Jürgen Weiss ist neu im Team der Factory-Kolumnisten. Neben Christian Eberhardt-Motzelt mit seiner Kolumne #Vertriebssicht wird #BesserWeiss ab sofort monatlich mit Digitalisierungsmythen aufräumen.