Stahl : Stahlbranche: Nach dem Boom kommt der Fall
Seit zehn Jahren hat die Stahlbranche nicht mehr solche Preisanstiege erlebt. Der Preis für Stahl ist seit Ende 2020 von rund 400 Euro auf über 700 Euro pro Tonne warmgewalzten Stahl geklettert. Und so soll es weitergehen. Auch im zweiten Halbjahr rechnet Gisbert Rühl, Chef des deutschen Stahlhändlers Klöckner & Co, mit einer solchen Preisstabilität.
Weiterhin hohe Überkapazitäten
Der extreme Preisanstieg der letzten Zeit versteckt allerdings die strukturellen Probleme der Branche. „Die aktuell hohen Stahlpreise sind eine Folge von Nachholeffekten: Die Abnehmer füllen ihre Lager wieder auf, dadurch gibt es eine Spitze in der Nachfrage“, erklärt Nicole Voigt, Stahlexpertin und Partnerin bei der Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG). „Strukturell hat sich am Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage aber nichts geändert: Es bestehen weiterhin hohe Überkapazitäten, die abgebaut werden müssen.“ Weltweit werden rund 700 Millionen Tonnen Stahl mehr produziert, als der Markt verbrauchen kann, so eine Schätzung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OSZE). Bei einer Gesamtkapazität von rund 2,5 Milliarden Tonnen ist das ein Überhang von fast 30 Prozent.
Der größte Anteil an der Weltproduktion entfällt dabei auf China. Mit einer Produktionsmenge von mehr als 900 Millionen Tonnen Rohstahl führt die Volksrepublik die Liste der größten Stahlproduzenten der Welt mit großem Abstand an. Auf Platz zwei liegt Indien, das nur rund ein Zehntel dieser Menge produziert. Dem gegenüber stehen die deutschen Hersteller, die jährlich rund 40 Millionen Tonnen Rohstahl produzieren.
Fusionen scheitern
Seit Jahrzehnten schon reagieren die europäischen Unternehmen auf den zunehmenden Druck aus dem Ausland, darunter insbesondere China, Russland und der Türkei, mit immer größeren Fusionen. Zuletzt war die Neuordnung der Branche aber ins Stocken geraten, nachdem mehrere geplante Zusammenschlüsse zwischen den größten Produzenten in Europa aus verschiedenen Gründen nicht zustande gekommen waren.
So untersagte die EU-Wettbewerbskommission 2019 etwa die Fusion von Tata Steel Europe und der Stahlsparte von thyssenkrupp. Zu Beginn des Jahres endeten auch die Gespräche zwischen dem schwedischen Hersteller SSAB und Tata über eine Übernahme der niederländischen Stahlwerke erfolglos, da SSAB das finanzielle Risiko zu groß war. Ebenso scheiterten die Verhandlungen zwischen thyssenkrupp und Liberty Steel an verschiedenen Vorstellungen der beiden Unternehmen. thyssenkrupp möchte sein Stahlgeschäft nun selbst in die Hand nehmen.
1,7 Tonnen CO2 pro Tonne Stahl
Einen Ausweg aus der Misere suchen viele Stahlhersteller in der klimaneutralen Produktion: Bis 2050, so sehen es die Klimaregeln der Europäischen Union vor, soll die gesamte Wirtschaft CO2-neutral laufen. Den Stahlherstellern kommt dabei eine besondere Rolle zu: Da bei der Produktion von einer Tonne Stahl rund 1,7 Tonnen CO2 erzeugt werden, zählt die Branche zu den größten Emittenten in der Industrie. Gleichzeitig stehen die notwendigen Technologien für einen Umstieg bereit. Was noch fehlt, sind milliardenschwere Investitionen in neue Anlagen, welche die finanziellen Möglichkeiten der Unternehmen deutlich übersteigen.
Grüner Stahl könnte um 50 Prozent teurer werden
So rechnet etwa die Wirtschaftsvereinigung Stahl (WV Stahl) mit Investitionen von rund 30 Milliarden Euro, um die gesamte deutsche Stahlproduktion zu dekarbonisieren. Dabei sind allerdings noch keine Mehrkosten im laufenden Betrieb berücksichtigt, die etwa durch den Wechsel von Kohle zu klimaneutral produziertem Wasserstoff entstehen werden.
„Wir rechnen durch den Umstieg auf klimaneutrale Produktionsverfahren mit Mehrkosten von bis zu 300 Euro je Tonne Stahl, wenn man die Betriebs- und Investitionskosten betrachtet“, erklärt BCG-Stahlexpertin Voigt. „Diese Mehrkosten müssen von allen Teilnehmern in der Wertschöpfungskette getragen werden – von den Stahlunternehmen selbst über Abnehmer wie die Autoindustrie bis zum Endkunden.“
Enormer Bedarf an grünem Wasserstoff
Eine offene Frage ist dabei auch die Versorgung mit „grünem“ Wasserstoff, der durch erneuerbare Energie aus der Elektrolyse von Wasser gewonnen werden kann. Bislang sind weltweit nur wenige Anlagen in Betrieb, in denen das möglich ist. Für die Stahlindustrie wird die verfügbare Menge an grünem Strom in Europa zur Existenzfrage. Denn der Bedarf, den ein mit Wasserstoff produzierendes Stahlwerk benötigt, ist enorm. Allein für die deutsche Stahlindustrie rechnet die IG Metall mit einem Mehrbedarf von 12.000 Windrädern mit einer Leistung von fünf Megawatt, um ausreichend grünen Wasserstoff zu produzieren.
Die Zahlen zeigen: Allein der Aufbau der benötigten Infrastruktur dauert Jahre, bevor tatsächlich alle Stahlwerke auf grüne Produktionsverfahren umgestellt werden können. Gleichzeitig steigen die Kosten für CO2-Zertifikate. Dabei sind viele Hersteller in Sorge, dass dieses Geld am Ende fehlen könnte, um den Aufbau einer klimaneutralen Produktion zu finanzieren. BCG-Expertin Voigt schlägt eine leicht abgewandelte Definition für grünen Stahl vor: Dabei werden schrittweise CO2-Einsparungen im gesamten Prozess auf eine Menge „grünen Stahläquivalents“ umgerechnet, der dann als „grüner Stahl“ verkauft werden kann.
Der Vorteil für die Unternehmen: Schon vor dem Aufbau einer komplett klimaneutralen Produktion könnten sie grünen Stahl in kleineren Mengen anbieten. Das soll Unternehmen die nötige Flexibilität geben, früher in den Markt zu starten.