Vision-Systeme : Scharfes Auge auf die Augen
Die Statistiken sprechen eine klare Sprache. Rund 1,3 Millionen Menschen sterben laut WHO jährlich weltweit an den Folgen von Autounfällen, und nahezu immer ist der Faktor Mensch der Auslöser. Rund zwei Drittel dürften Ablenkung oder Übermüdung der Lenker geschuldet sein, im Lkw-Bereich gehen Schätzungen von 20 Prozent aus. Der Gefahr wird vor allem durch Beschränkungen der Lenkzeiten begegnet. Was einerseits nicht gegen Ablenkung hilft, andererseits bekanntlich auch nicht immer eingehalten wird.
Die Suche nach Abhilfe führt immer deutlicher in Richtung technologischer Lösungen, wobei vor allem das Monitoring der Fahrer in den Fokus gerät: Computer-Vision-basierte Systeme, die in Echtzeit erkennen, wenn der Fahrer abgelenkt ist oder Anzeichen von Übermüdung zeigt – und damit entsprechende Warnungen triggert. Eine Wiener Softwarecompany spielt hier international in der ersten Liga mit.
Müdigkeit als temporäre Metrik
„Safety ist natürlich das vorrangige Ziel unserer Entwicklung“, sagt Benedikt Spannocchi, Head of Business Development bei emotion3D. Das Wiener Unternehmen produziert eine Software-Middleware, die menschliche Charakteristika und Verhaltensweisen analysiert und die in Echtzeit generierten Daten dem System des Fahrzeugs zur Verfügung stellt. Im ersten Schritt werden Faktoren wie Augenstellung, Blickrichtung oder Kopfpose visuell erfasst und analysiert – aber auch Objekte wie beispielsweise Smartphones. Über heuristische Analytik werden im zweiten Schritt die eigentlichen Use Cases realisiert, also etwa Aussagen über Ablenkung oder Müdigkeit getroffen. Was damit passiert, in welcher Form also die Warnung erfolgt, ist den Vorlieben und Wünschen des OEM überlassen.
Dass Müdigkeit ein schwierig zu bestimmender Faktor ist, liegt auf der Hand. „Wenn ich ein Foto von Ihnen mache, habe ich keine Chance zu sehen, wie wach oder müde Sie sind“, sagt Benedikt Spannocchi. „Müdigkeit ist eine temporäre Metrik, die man nicht Frame by Frame bestimmen kann. Ein temporäres Machine-Learning-System zu entwickeln, und das dann auch zu validieren, ist ungleich schwieriger, als nur die einzelnen Module zu entwickeln und darauf aufbauend eine Heuristik zu überlegen, die das Müdigkeitslevel ausgibt.“
Eine weitere Hürde: Die Systeme müssen für alle Menschen gleich gut funktionieren, unabhängig etwa von Geschlecht, Alter oder Hautfarbe. Gute Trainingsdaten – also Bilder – zu erhalten, sei relativ schwierig und zeitintensiv, erzählt Spannocchi.
Schärfere Regularien am Horizont
Politische Entscheidungen spielen emotion3D derzeit in die Hände. So etwa die General Safety Regulation der EU von 2019: Die sieht unter anderem vor, dass neue Fahrzeugtypen ab 2022 mit Systemen für Driver Drowsiness and Attention Warning ausgestattet sein müssen. Pkw gleichermaßen wie Lkw. „Diese Systeme müssen zunächst nicht unbedingt kamerabasiert sein“, sagt Benedikt Spannocchi, „in einem ersten Schritt können etwa auch Lenkbewegungen analysiert werden. Doch die Regularien werden wohl nachgeschärft werden, vor allem Driver Drowsiness und Driver Distraction müssen ja extrem schnell und akkurat erkannt werden.“
Wenn eines Tages autonome Level-3-Fahrzeuge unterwegs sind, wird es auch darum gehen zu bestimmen, ob die Aufmerksamkeit des Fahrers ausreicht, ihm wieder die Kontrolle zu übergeben.
Viele weitere Funktionen denkbar
Doch auch abseits dieser Kernfunktionen liegt im In-Cabin Monitoring viel Musik. Die personalisierte Erkennung des Lenkers etwa bietet zahlreiche Möglichkeiten, die User Experience zu erhöhen. Automatisches Einstellen von Sitzposition, Innenraumtemperatur oder Radiosender sind nicht nur im Pkw-Bereich spannend, sondern könnten auch ein Argument in Branchen werden, die dringend nach Berufsfahrern suchen.
Zugleich liegt darin eine weitere Möglichkeit, Sicherheit zu verbessern. „Passive Sicherheitssysteme wie Airbags funktionieren nicht optimal, weil sie ein Bias in Richtung männlicher Durchschnittsperson haben“, sagt Benedikt Spannocchi. Ein Bias, das nachweislich dazu führt, dass Frauen bei Unfällen ein höheres Verletzungs- und Sterberisiko haben als Männer. Spannocchi rechnet damit, dass In-Cabin Monitoring in wenigen Jahren auch für individualisiertes Auslösen von Airbags oder Gurtstraffern eingesetzt werden wird.
Nicht zuletzt schlummert hier auch die Chance auf Einsparungen. In einer Branche, in der jede Gewichtseinsparung Geld wert ist, wäre zum Beispiel der Ersatz von Sitzmatten, die das Körpergewicht bestimmen, durch visuelle Abschätzung eine spannende Alternative. „Wenn die Kamera ohnehin schon installiert ist, kann man ihr auch viele weitere Funktionen zuweisen“, erwartet Spannocchi.
Benefit für die Mitarbeiter
Ob das System in Pkw oder Lkw eingesetzt wird, ändert an der Technologie selbst nur wenig. Als wesentlichen Unterschied nennt Spannocchi den Umgang mit den gewonnenen Daten: Während die im Pkw sofort gelöscht werden, bieten sie Flottenbetreibern durchaus Möglichkeiten für statistische Auswertungen. Wann gab es ein Distracted Driving? Wie lange nach Fahrtantritt?
Definitiv ein heikler Bereich, der zumindest auf Skepsis stoßen wird. „Unternehmer, die das einsetzen, müssen sehr klar machen, dass es hier um Sicherheit geht und nicht um Überwachung. Der Umgang mit Daten muss absolut transparent sein, dann kann man solche Systeme auch glaubwürdig als Benefit für die Mitarbeiter präsentieren.“
emotion3D, dessen Fokus im Pkw-Bereich liegt, arbeitet derzeit an einem Proof of Concept mit einem Lkw-Zulieferer, „und ich rechne damit, dass wir bald in die Produktentwicklung gehen“, sagt Benedikt Spannocchi. „Unser Truck Driver Monitoring sollte innerhalb drei Jahren auch am Markt verfügbar sein.“