Arbeitswelt : Plattform Industrie 4.0: 81 Empfehlungen für eine digitalisierte Arbeitswelt
Dass Routine- und repetitive Tätigkeiten im Zeitalter der Digitalisierung immer mehr unter Druck kommen, ist klar. Dass aber die flacher werdenden Hierarchien völlig neue Tätigkeitsprofile zum Vorschein bringen, eher nicht. Fakt ist, dass Produktionsunternehmenzunehmend schwerer abzuschätzen können, welche Kompetenzen in einigen Jahren benötigt werden. Auch Bildungseinrichtungen brauchen entsprechende Inhalte, um ihr Lehr- und Lernangebot auf diese Trends ausrichten zu können.
Der Frage, welche Qualifikationen und Kompetenzen in einer digitalisierten Arbeitswelt benötigt werden, ist eine Expertengruppe „Qualifikationen und Kompetenzen“ der Plattform Industrie 4.0 Österreich nachgegangen. Das Besondere dabei: Die über 70 Experten stammen dabei aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft sowie Arbeitnehmern. In einem Ergebnispapier, dass den Kabinetten der Bundesregierung vorliegt, wurden wesentliche Handlungsfelder identifiziert und daraus 81 Empfehlungen abgeleitet.
Interkulturelle Kompetenzen, Selbstorganisation oder Kreativität immer stärker benötigt
„Qualifikation ist der Universalschlüssel für die Arbeitswelt der Zukunft – denn wer über die passenden Fähigkeiten und Kompetenzen verfügt, dem stehen viele Möglichkeiten offen", meint Roland Sommer, Geschäftsführer der Plattform Industrie 4.0 Österreich. In Zukunft wird es neben formalem Lernen auch informeller Wissenserwerb und vor allem dessen Anerkennung wichtiger werden. Gerade in der Industrie spiele die Weitergabe von nicht codifiziertem Wissen, also Erfahrungswerten von Mitarbeitern, zunehmend eine Rolle. "Gerade hier können neue Technologien wie Videos, Sprachassistenz, Virtual Reality helfen", so Sommer. Die Digitalisierung bringt in Unternehmen verstärkt ein dezentrales Arbeiten mit sich. So finden Tätigkeiten oft in abteilungsübergreifenden Teams statt. Das bedeutet, dass Entscheidungen öfter dezentral getroffen werden und die Verantwortung somit auf niedrigere Hierarchieebenen wandert. Dadurch werden die sogenannten „überfachlichen Kompetenzen“ wie interkulturelle Kompetenzen, Selbstorganisation oder Kreativität immer stärker benötigt. Ein Feld, wo sich gerade die KMUs der heimischen Produktionsindustrie schwer tun.
Es braucht neue Fördermodelle
Auch AK Wien-Arbeitsmarktexpertin Ilse Leidl-Krapfenbauer fordert, dass digitale Kompetenzen breiter vermittelt werden müssen. Es brauche eine neue Form der Arbeits- und Lernorganisation. "Weiterbildung ist in Österreich ungleich verteilt", kritisiert Leidl. Nach dem "Matthäus Prinzip“, würde nur jene die Möglichkeit erhalten, die sowieso schon Weiterbildungen verbuchen können. Ob es den Mitarbeitern nicht manchmal schlicht und einfach an Motivation mangle, verneint die Arbeitsmarktexpertin. "Den Menschen ist klar, dass Bildung notwendig ist, um ihren Arbeitsplatz abzusichern." Der Arbeitsplatz wird laut Plattform-Papier immer mehr zum Lernort. Warum? "Weil Spezialisierungen keine Bildungseinrichtung leisten kann", so Sommer. Es brauche also eine verstärkte Integration von Lernen in den Arbeitsprozess.
Für Leidl-Krapfenbauer darf Weiterbildung aber nicht automatisch in die Freizeit der Mitarbeiter verlagert werden. Im Gegenteil: Die Rahmenbedingungen sollten optimiert werden. "Aus- und Weiterbildung braucht Zeit und muss auch leistbar sein", so die Expertin. "Wir brauchen ein neues System mit völlig neuen Förderungen. Weiterbildung darf nicht auf Kosten der Existenz von Mitarbeitern gehen." Das Förderinstrument "Bildungskarenz" sei gut, aber es brauche mehr.
Es braucht mehr Modularisierung von Bildungsangeboten
Die Plattform fordert auch die Modularisierung von Bildungsangeboten und vor allem deren spätere Anrechnung an unterschiedlichen Bildungseinrichtungen. Ein sehr komplexes Thema, das zwar österreichweit schwer durchsetzbar sei, wofür es aber regional bereits gute Projekte gibt. Gerade regionale Verbünde wie die "Zukunftstakademie Mostviertel" oder die "WMA Weinviertler Mechatronik Akademie" gehen hier mit gutem Beispiel voran. Dennoch pocht die Plattform Industrie 4.0 auf eine zeitgemäßere Ausstattung von Bildungseinrichtungen. So hätten z.B. Berufsschulen eine WLAN-Abdeckung von mageren 37 Prozent. Ein absolut nicht zeitgemäßer Wert.
Nicht zuletzt müssen Mitarbeiter auch für die Datenschutz-Grundverordnung, die Ende Mai europaweit in Kraft getreten ist, sensibilisiert werden. Die Datensicherheit wird in Zukunft eine zentrale Rolle spielen: Unternehmen müssen ihre in diesem Bereich getroffenen Maßnahmen ständig überprüfen – egal ob technischer Natur wie Firewall und Verschlüsselungen oder organisatorischer Natur wie Zugangs- und Zugriffskontrollen. Der Datenschutz wird damit für alle Mitarbeiter, die mit Daten zu tun haben, ein äußerst wichtiges Thema, in dem sie regelmäßig geschult werden müssen.
Definierte Handlungsfelder im Überblick
Geeignete Maßnahmen sollten möglichst früh ergriffen werden, um die Veränderungen bestmöglich als Chance für die Menschen zu nützen. Im Ergebnispapier der Plattform Industrie 4.0 sind folgende Handlungsfelder definiert:
Neue und „alte“ Lerninhalte kombinieren: Neben den klassischen Basiskompetenzen wie Lesen und Schreiben sind auch digitale Grundkompetenzen wie IT-Anwendung und -Nutzung für die Informationsgesellschaft unumgänglich und sollten fixer Bestandteil der Aus- und Weiterbildung sein.
Vielfalt der Lernorte schaffen: Der Arbeitsplatz wird verstärkt zum Lernort – sei es durch dezentrale Arbeitsformen wie Home Office, Lernbegleiter und -methoden im Digitalbereich oder virtuelle Lernplattformen, die verstärkt eingesetzt werden.
Zugang zum Lernen fördern: Alle Bevölkerungsgruppen benötigen Zugang zur Bildung 4.0 – modulare Bildungsangebote und die Anerkennung von vorhandenen Kompetenzen sind hier ein wichtiger Schritt. Das Interesse an MINT-Fächer sollte so früh wie möglich bei Kindern und Jugendlichen geweckt werden.
Rahmenbedingungen optimieren: Die Qualitätssicherung z.B. durch die Anerkennung von informell erworbenen Erfahrungen ist zentral, ebenso die Reduktion der Drop-out-Raten im Bildungsbereich. Leistbarkeit und zeitliche Ressourcen sind für Aus- und Weiterbildung wichtig.
Kooperationen fördern: Kooperationen – ob nun regional, branchenbezogen, schulübergreifend oder im Bereich Industrie 4.0 – vernetzen unterschiedliche Partner, fördern somit den Erfahrungsaustausch und ermöglichen interessante und praxisbezogene Lernprojekte.
Traditionelle Rollenbilder aufbrechen: Die abnehmende Bedeutung physischer Kraft in der Produktion ermöglicht neue Chancen für Frauen im Produktionsumfeld. Dazu bedarf es der aktiven und frühzeitigen Ansprache von Mädchen und Frauen.
Es braucht eine Weiterbildungsstrategie: Aus- und Weiterbildung passieren selten zufällig. Werden Lernprozesse in die Unternehmens- und Personalentwicklung sowie in den persönlichen Erwerbsverlauf von Arbeitnehmern eingebettet, werden bessere Erfolge im kontinuierlichen Lernen erzielt.
Das vollständige Ergebnispapier finden Sie unter http://plattformindustrie40.at/wp-content/uploads/2018/05/WEB_Industrie4.0_Ergebnispapier_2018.pdf