Organisationsform : New Work: Siemens macht Schluss mit der Top-Down-Hierarchie
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New Work, neue Arbeits- und Organisationsformen, sind momentan bei Coaches, Personalern oder CEOs sehr beliebt. Unternehmen wollen sich als modern, emphatisch, weltoffen und innovativ präsentieren. Viele Betriebe schmücken sich zwar mit dem Begriff, aber überzeugende Beispiele, die auch ökonomisch belegbar sind, fehlen. Auch für diesen Text war es schwierig überzeugende Ansätze zu finden – bis ein Blogartikel von Sabine Kluge, Senior Consultant Human Relations bei Siemens auftauchte und schnell favorisiert wurde: „Heavy Metal bei Siemens – Ihr baut Eure Fabrik!“ New Work bei Siemens, ein Großkonzern und dann auch noch ein Insiderbericht? So viel vorab: Das Projekt ist spannend, ist mehr als New Work und ja, das Projekt aus Berlin hat Vorbildcharakter. Dazu kommt: Die drei Verantwortlichen wurden verdient mit dem Xing-New-Work-Award 2018 prämiert.
Krisenstandort Berlin als Vorbild
Die Ausgangssituation: Im Gasturbinenwerk von Siemens sollte eine neue Brennerfertigung aufgebaut werden, um die Produktivität des Werks zu verbessern – aus dem Krisenstandort in Berlin sollte ein Vorbild werden. Investitionssumme rund 12 Millionen Euro – das musste der Vorstand bewilligen. Eigentümerkultur verlangten die Manager aus München und die Siemens-Mitarbeiter lieferten. Doch nach der Bewilligung des Geldes kam das Projektteam mit bekannten Managementtools nicht in Fahrt. Das Projekt plätscherte vor sich hin, die Begeisterung fehlte. Durch Beobachtung der Dynamik der Teams wurde schnell klar, dass die Reißbrett-perfekten Pläne die Beteiligten nicht berühren, weil sie den Gestaltungswillen der Wissensträger unterdrücken, schreibt Sabine Kluge. Mit dem „Wasserfall“ waren Eigentümerkultur und Agilität nur schwer vereinbar.
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Gestaltungsfreiheit auch bei sechsstelligen Budgetfragen
Was tun? „Wir lassen die Leute sich selbst organisieren“, so Kluge. Man stellte lediglich einen Raum zur Verfügung und „ließ einfach los“. Ronny Grossjohann vom Projektteam berichtet: „Und überall wo wir losgelassen haben, passierten plötzlich Dinge, die wir alleine nie geschafft hätten. Wir erlebten plötzlich hautnah die Energie und das Selbstbewusstsein der Leute, und begriffen schnell: Der Kern des Wissens liegt an der Basis. Je mehr wir losließen, desto mehr bahnbrechende Ideen kamen. Mitarbeiter, die vorher 20 Jahre schweigend an „ihrer“ Schleifmaschine ihre Arbeit gemacht hatten, diskutierten plötzlich lautstark mit, standen für ihre Ideen ein und übernahmen Verantwortung in den Diskussionen um die Gestaltung der Fertigung – und um sechsstellige Budgetfragen.“ So entschied sich eines der Teams für eine innovative Maschine mit einem Investitionsvolumen von 750.000 Euro. Das bedeutete für das Team eine ganze Menge Mut, für diese Entscheidung einzustehen und die Verantwortung dafür zu tragen.
Was machen die Chefs?
Etwa zwölf Monate dauerte die Planungsphase in der die Fertigungsmitarbeiter ihre Arbeitsplätze und Aufgaben selbst definierten und etliche Vorrichtungen erfanden, die die Abläufe leichter, schneller und effizienter machen sollten, schreiben die Macher. Grossjohann und sein Kollege Robert Harms verstanden sich in dieser Phase als Coaches und unterstützen die Teams in ihrer Konsensfindung – ganz ohne Zeitpläne und Controllingsystem, heißt es weiter. Die Funktion Coach darf in dem Projekt nicht unterschätzt werden, denn sie sind das Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Clustern und Teams und zu den Vorgesetzten.
Ein Erfolgsfaktor: Die neue Organisation. Sämtliche technische wie wirtschaftliche Fragen werden nun von den betroffenen Fertigungsexperten im Cluster entschieden. Das neue Credo: Weg von der Top-Down-Entscheidungspyramide. Und was machen dann die Chefs? Sie werden von Mikromanagement entlastet und entwickeln strategische Projekte oder entwickeln Mitarbeiter weiter – aber nicht alle wird man überzeugen können. Dafür braucht es in New Work auch Lösungen. Etwas das oft übersehen wird.
Betriebswirtschaftlich rechnet sich das New Work-Projekt in Berlin
Und ist Siemens Berlin die Ausnahme? Beflügelt wird die Bewegung, die sich im Unternehmen derzeit auch in anderen Initiativen manifestiert, vom Wert der Eigentümerkultur, die seit einigen Jahren von der Konzernleitung proklamiert und damit gefördert wird: Dem Gedanken, seine Entscheidungen so zu treffen, als ob es um das eigene Unternehmen ginge, schreiben die Vorreiter aus Berlin. Doch es gibt auch noch Hindernisse: Einkaufsprozesse beispielsweise. Das Ziel muss sein, so Kluge: „Gangbare Wege zu definieren, unter Wahrung der Compliance die operativen, agilen Aktivitäten nicht unnötig zu behindern. Und dort wo möglich zentralistische Prozesse kundenorientierten und marktgerechten Entscheidungsstrukturen zu opfern – unter Wahrung von Compliance, aber im Einzelfall auch für den Preis höherer Redundanzen im Unternehmen.“
Apropos Preis und Zahlen: Betriebswirtschaftlich rechnet sich das Projekt in Berlin: Jährliche Einsparungen in deutlich doppelter Höhe verglichen mit der Anfangsinvestition, Sicherung von Standort und Arbeitsplätzen. Und nicht zu unterschätzen: Fertigungskollegen, die Lust an der Arbeit haben und ihre Produktion verbessern wollen.
Meinung vom Autor: Nicht nur für die Teppichetage
New Work ist kein Top-Down-Projekt, aber das wollen viele Manager noch nicht wahrhaben.
Ich mochte die ganze New-Work-Diskussion nicht, sie war mir zu abgehoben, zu sehr auf der Metaebene der Fabrik verankert. Es war eine Diskussion für die Teppichetage, nicht für die Werker, dachte ich. Sabine Kluge und das Siemens-Team aus Berlin haben mich eines Besseren belehrt. Sie treten den Beweis an: New Work ist nicht nur was für das Büro und New Work ist auch mehr als ein neues Großraumbüro im Loungestyle oder Home-Office – diese Feststellung ist ebenso wichtig, denn wie bei allen Trends fehlen heute oft die Definitionen, siehe auch Industrie 4.0. Jeder Berater kann Definitionen selber für sich treffen und in die Welt hinausposaunen, die Unternehmen verunsichern und zu eigenartigen Handlungen verlocken, die zu den Menschen im Betrieb vielleicht nicht immer passen. New Work ist kein Top-Down-Projekt, das wollen viele Manager noch nicht wahrhaben.
Für ein erfolgreiches Projekt braucht es weiterhin Menschenkenntnis, Prozesswissen, Zahlenmaterial und Zahlenverständnis sowie Kreativität – ist das New Work? Wenn ja, dann ist es kein geheimes Rezept, allein es mangelt bei vielen leider bei der Empathie und der Kreativität. Lassen wir Querdenker wieder zu – an der Universität, in der Ausbildung und im Job – im Konzern und im Mittelstand.