Leitbetrieb Kärnten : Kärnten: Elektronische Spurensucher
„Sie sagen, Sie können’s, und scheitern dann doch.“ Raimund Antonitsch kennt seine Branche gut. Von einer integrierten Traceability, also Rückverfolgbarkeit der Produkte, sind viele Elektronikunternehmen immer noch weit entfernt. Für einzelne Kunden sei dies schon möglich, doch entlang der gesamten Fertigung immer noch Wunschdenken. Der Grund ist einfach: „Wir kämpfen mit einer sehr hohen Produktvielfalt und Systeminseln“, so der Manager für Systemintegration bei cms electronics. Bis zu 300 Bauelemente können sich auf einer Baugruppe tummeln. Wer hier die Königsdisziplin „Traceability“ umsetzen will, braucht nicht nur Köpfchen sondern auch einen langen Geduldsfaden. Eine Kombination, die diese Kärntner besitzen und damit ihr Unternehmen an die Spitze der smarten EMS-Fertigung katapultieren.
Ein echtes Mammutprojekt.
Vor zwei Jahren startete cms electronics unter der Leitung von Antonitsch sein Integrated Traceability Excellence Programm – kurz iTEP genannt. Initiationszündung waren Reklamationsfälle. „Wir wollten eine durchgängige Rückverfolgbarkeit entlang der gesamten Fertigung“, so Antonitsch. Dahinter steckt nicht nur die Fähigkeit Echtzeitprozesse abbilden zu können, sondern auch Maschinen, die herstellerunabhängig miteinander kommunizieren, autonome Produktionsschritte sowie eine Prozessverschränkung. Das große Ziel: Angefangen beim Wareneingang, über die Materialvorgabe, bis hin Fertigungsmaschine am Shopfloor alle Materialdaten rückverfolgen zu können. Ein echtes Mammutprojekt, wie mittlerweile auch der Projektleiter zugeben muss.
Erster Schritt: Daten sammeln.
„Wer Prozesse automatisieren und miteinander verknüpfen will, braucht zuerst Daten“, erklärt der Kärntner. „Und das beginnt immer am Wareneingang.“ Dafür wurde extra ein neues Manufacturing Execution System (MES) angeschafft. Das Credo dabei: Weg von Insellösungen, wie Excel-Listen. Nur wer diese Inseln abschafft, könne auch eine durchgängige Rückverfolgbarkeit garantieren, gibt Antonitsch einen Tipp. Das MES spiele dabei den Dreh- und Angelpunkt. Denn über eine bidirektionale Schnittstelle zum ERP-System wandern Stammdaten wie Stücklisten, Aufträge runter an den Shopfloor und damit rein in die Fertigungssoftware. „Nur so ist es möglich gewesen auch in punkto Automatisierung weiter voranzukommen.“ Vor einigen Jahren haben sich die Kärntner nämlich eine vollautomatisierte Endprüfanlage auf Roboterbasis konzipiert. „Sie übernimmt alle Prozesse der Endprüfung“, erklärt Antonitsch. Der große Vorteil: Die Anlage prüft satte 2.400 Baugruppen pro Stunde, während das teilautomatisierte Vorgängersystem nur 700 schaffte.
Alles beginnt beim Wareneingang.
Besonders stolz ist Antonitsch auf einen der größten Brocken im bisherigen iTEP-Projekt: Der mittlerweile fast vollständig automatisierte Wareneingang. „Heute bekommt jedes Rohmaterial bei cms eine eindeutige ID“, erklärt er. „Gescannt und im System erfasst laufen die Rohmaterialien automatisiert weiter in die Fertigung.“ Die Herausforderung dabei: Die enorme Vielfalt der Etiketten. Zwar könne das System mit dieser herstellerbedingten Vielfalt umgehen, das sei aber sehr aufwändig. Seit kurzem sind die findigen Kärntner deshalb Mitglied in einer Arbeitsgruppe aus dem Automotiv-Bereich. Diese will dem Rohstoff-Etiketten-Standard „MAT-Label“ mehr Gehör verschaffen. In ihren eigenen Hallen haben die Kärntner zumindest de-facto einen solchen Standard umgesetzt. Heute können sie defekte Baugruppen bereits vorab aus der Produktion ausschleusen. „Entweder wir fräsen diese Bauteile aus oder der Kunde macht es später selbst“, erklärt Antonitsch. Der große Vorteil dabei: Die Kärntner produzieren nicht nur weniger Ausschuss, sondern können auch die Produktion beim Kunden mitbeeinflussen. „Das ist quasi bares Geld, was wir uns über den Produktionsprozess wieder hereinholen“, so der Projektleiter.
Sorgenkind: Proprietäre Schnittstellen.
Aber nicht nur den Etiketten fehlt es an einer standardisierten Schnittstelle, auch bei der Datenerfassung gibt es enormen Handlungsbedarf. Antonitsch’s Sorgenkind sind proprietäre Schnittstellen. Immer noch existiert die Kommunikation von Maschinen in unterschiedlichen Protokollen. „Offene Interfaces zum standardisierten Datenaustausch sind das reinste Wunschdenken“, klagt der Projektleiter. Einen ersten Schritt in diese Richtung gab es zwar bereits vor drei Jahren, doch das standardisierte ZVEI-Interface findet immer noch zu wenig Anhänger in der Branche. Auch in den Hallen der Elektronikdienstleister hatten nur zwei der insgesamt 50 Maschinen diesen Standard integriert. Die schlauen Kärntner sahen sich unter Zugzwang und entwickelten daraufhin einfach ihre eigenen Schnittstellen. Bis Ende 2016 wollen die Kärntner eine komplett durchgängige Rückverfolgbarkeit und Prozessverschränkung in beiden Werken, Ungarn und Kärnten, umgesetzt haben. Die Hälfte des Weges habe man schon hinter sich. „Jetzt geht’s in den Endspurt.“ (EB)
Kurz und Knackig:
Das versteht Raimund Antonitsch unter Industrie 4.0
Cyberphysical Systems: Wo es für andere um Produkte geht, geht es bei uns als Elektronikdienstleister um eine Prozessverschränkung von Daten, Menschen und Maschinen.
Was ist für Sie das Unwort des Jahres in Zusammenhang mit Industrie 4.0?
IoT: Das Internet-of-Things gehört mehr zum Consumer Bereich als zur Industrie.