FACTORY-Kommentar : Industrie 4.0: Bullshit-Bingo, und was kommt jetzt?
Also jetzt ernsthaft? Am 15. Oktober ging ein VDI-Mail mit dem Betreff „Industrie 4.0: jetzt wird es endlich Realität“ an die deutsche Ingenieursöffentlichkeit. Eine wahre Offenbarung, hatte doch Siemens-Konzernvorstand Siegfried Russwurm auf der Hannover Messe 2014 angekündigt, man befände sich erst bei Industrie 3.8. Hat es unsere große Schwester also nun doch geschafft – sie knackt die 4.0-Latte. Jetzt waren sie schon Fußballweltmeister – da gehört die „nächste industrielle Revolution“ wohl zum guten Ton.
Seit gut zwei Jahren reden wir also nur darüber und jetzt – ja, jetzt wird es endlich Realität. Genauer gesagt erst Ende Jänner auf eben dieser Fachtagung. Die 1.001te ihrer Art, auf der über Chancen und Herausforderungen diskutiert wird. Das Rezept dazu ist freilich dasselbe wie auf den 1000 Konferenzen davor auch schon: Man nehme drei bis vier „Experten“ – meist von der Anbieterseite. Sie sollen dem Hype einen gewissen Produktcharakter verleihen, denn womit will man sonst ganze Messehallen füllen?
Spannend bleibt, ob Russwurm auf der SPS IPC Drives die 4.0-Latte jetzt knackt oder nicht. Zu wetten bleibt, wer als Erster behauptet, 4.1 erreicht zu haben. Aber zurück zur Fachtagung: Die Produktexperten werden mit einem Professor geschmückt – man will ja den Schein wahren – und auf einem Podium versammelt. Hartnäckig wird dann mit Wortgewalten wie Cyberphysical Systems, vernetzter Produktion oder Digitaler Fabrik um sich geschmissen und für DIE Standortabsicherung Europas plädiert. Zum Schluss gibt es noch eine „Wehe-wenn-nicht“- Prognose und fertig sind die Chancen von Industrie 4.0.Das mit dem Hype an sich ist schnell entmythologisiert, wenn sogar die Politik den Begriff auf ihre Bühne hievt. Separate Interessen sollen dann hintenangestellt werden und der Versuchung, die eigene Technologie zu pushen, unbedingt widerstanden werden. Gar nicht so einfach – lockt doch Technologieminister Alois Stöger heuer und nächstes Jahr mit insgesamt 250 Millionen Euro. Diese politische Euphorie soll ansteckend wirken, aber für wen?
„Wusste gar nicht, dass es für das, was wir machen, einen Ausdruck gibt.“ Seit zwei Jahren habe ich immer wieder mit Unternehmen zu tun, die aus den Industrie- 4.0-Ideen längst Lösungen gemacht haben. Die heißen dann anders oder bleiben einfach Kinder ohne Namen. Warum auch nicht? Es geht einzig und alleine um kluge Automatisierung, die die eigene Effizi- enz in der Produktion steigert. Um die täglichen Mühen eben, die in einem Industriebetrieb auf sich genommen werden.
Eines freilich bringen die Dauerdiskussionen schon. Der Hype erhält weltweites Publikum, denn unter dem Deckmantel Industrie 4.0 schwatzt jeder gern und viel. Zuweilen auch in fremden Sprachen. War das Messemotto der deutschen Hannover Messe im Vorjahr noch „Industrie 4.0 – Next Steps“, lautet es heuer: „Integrated Industry – Join the Network“. Was nichts anderes als der amerikanische Begriff für Industrie 4.0 ist.
Aber he – Let’s join the Network – oder sind Sie etwa schon längst dabei?