Der Partycrasher : Illusion 4.0: Warum wir die smarte Fabrik abschminken können
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Factory: Herr Syska, Sie gelten in Deutschland als der Industrie 4.0-Kritiker. In machen Diskussionen tragen Sie sogar den Titel „Madigmacher“ – zu Recht?
Andreas Syska: Diesen Titel kenne ich gar nicht. Aber den kann nur derjenige verliehen haben, der nicht richtig hinhört, was ich zu sage habe. Denn die Möglichkeiten von Digitalisierung und Vernetzung gehen weit über das hinaus, was derzeit diskutiert wird. Sie bieten uns die historisch einmalige Chance, zu gestalten, wie wir zukünftig leben, arbeiten und wirtschaften wollen.
Das heißt Sie sehen sich doch als Optimist?
Klar, von daher bin ich sogar einer der Optimistischsten im Lande. Gut, für manch einen Fabrikausrüster, der sich die Hände reibt und auf einen Umsatzzuwachs hofft, mag das unangenehm sein. Aber wer ist hier eigentlich der Partycrasher? Derjenige, der den Industrie 4.0-Bauchladen aufklappt und Dinge verkaufen will, die nicht wirklich benötigt werden oder derjenige, der dies aufzeigt, um den Anwendern Enttäuschungen zu ersparen?
Warum kritisieren Sie in Ihrem Buch „Illusion 4.0“ Projekte, die im Kontext 4.0 entstehen?
Industrie 4.0 wird mit der Fabrik der Zukunft gleichgesetzt - andere Themen werden weitgehend ausgeblendet. Darüber hinaus haben einige der Protagonisten die Illusion, Algorithmen könnten ein komplexes, also linear nicht beschreibbares System, wie eine Fabrik steuern. Ein System, in dem ein irrationales Wesen, namens Mensch tätig ist. Das hat noch nie funktioniert und daran wird auch Industrie 4.0 nichts ändern.
Für Sie dreht sich also Industrie 4.0 höchst einseitig um Performanceverbesserung?
...wie ein digitales Fitnessprogramm für die Fabrik, ja. Es mangelt an Phantasie und Mut, das Thema von der Gesellschaft her zu denken - und zwar nicht von der Gesellschaft, wie sie ist, sondern von der Gesellschaft, wie wir sie uns wünschen.
Von China bis Europa folgen Regierungen und Unternehmen dem Dogma 4.0. Liegen die dann auch alle falsch?
Dies wäre nicht der erste Mainstream, dem alle folgen und der sich rückwirkend als falsch herausgestellt hat. Computer Integrated Manufacturing (CIM) - die Idee der völlig durchcomputerisierten Fabrik - war so ein Beispiel. Die Systeme sind an sich selber erstickt. Als klar wurde, dass eine Fabrik mit Algorithmen nicht zu beschreiben und schon gar nicht zu steuern war, wurde CIM still und heimlich begraben und im Nachhinein war es vielen peinlich, da mitgewirkt zu haben. Gewiss: wir haben heute eine andere Technologie, aber der Denkfehler ist der gleiche. Deshalb sehe ich Industrie 4.0 auf einem ähnlichen Weg.
Sie haben am Forschungsinstitut für Rationalisierung an der RWTH promoviert, insofern müsste Industrie 4.0 eigentlich Ihr Lieblingsthema sein?
Uns Aachener Produktionäre eint die Faszination für Produktion. Wir arbeiten an Lösungen, die die Fabriken nach vorne bringen. Unterschiedliche Blickwinkel sind dabei nicht ausgeschlossen, ja sogar wünschenswert. Unbestritten: Durch Industrie 4.0 wird die Effizienz von Fabriken besser. Nur, ob der dahinterstehende Aufwand gerechtfertigt ist und ob Effizienz wirklich das wichtigste Thema ist, muss hinterfragt werden.
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Wie reagieren die Kritisierten auf Ihr Buch?
Fundamentalkritik wird es wohl geben, aber wir Autoren nehmen sie deswegen nicht wahr, weil bislang niemand der Kritisierten von sich aus den Dialog gesucht hat. Hingegen ist die Zustimmung, die wir erhalten, überwältigend. Vor allem der Dank, dass jemand ausspricht, was viele denken. Und von dieser Seite kommen auch viele und wertvolle konstruktive Anregungen im Detail.
Gibt es Stellen an denen Sie Ihren Kritikern Recht geben?
Das ist nicht zu beantworten, da man über Gegenargumente nur mutmaßen kann. Allerdings haben wir im Laufe unserer Arbeit Bestätigung dafür erhalten, dass man auf keinen Fall pauschalisieren und Urteile über gesamte Branchen oder Gruppierungen fällen darf - weder im Positiven noch im Negativen. Uns sind Menschen in Industrieunternehmen begegnet, die sich nicht verunsichern lassen und gezielt Industrie 4.0-Lösungen einsetzen. Sie machen dies aber auf Basis guter, stabiler Prozesse. Dahinter steckt Arbeit von vielen Jahren am Thema Lean Production. Es lohnt sich, hier genauer hinzuschauen, allein auch deswegen, weil es diesen Menschen nicht behagt, von den Industrie 4.0-Marktschreiern auf die Bühne gezerrt zu werden, sondern das Thema angehen, ohne es ideologisch aufzublasen.
Also ist Industrie 4.0 nicht vom Markt her gedacht?
Ist es doch - aber vom bestehenden Markt her. An vielen Ecken fehlen Mut und Phantasie, etwas tatsächlich Neues aufzubauen und das Bestehende mitleidlos zu zerstören. Insbesondere, wenn das Bestehende die eigene „Cash Cow“ ist. Deshalb spricht auch wenig dafür, dass wirkliche Umwälzungen aus bestehenden Systemen herauskommen, also von den bekannten Playern, sondern von Quereinsteigern und Neulingen.
Spielen Politik, Verbände und Lobby also unwissend ein falsches Spiel?
Fabrikausrüster und Forschung treiben die Politik vor sich her und diktieren die Agenda. Sie führen Projekte durch und erklären der Politik praktischerweise auch gleich, dass diese erfolgreich und die Fördergelder gut angelegt sind. Branchenverbände sekundieren, da sie ein gutes Geschäft für ihre Mitgliedsunternehmen wittern. So ist ein geschlossenes System entstanden, in dem sich die Beteiligten wechselseitig in ihren Ansichten bestärken und sich gegenseitig herzhaft auf die Schultern klopfen.
Sie kritisieren auch, dass gesellschaftliche Entwicklungen zu wenig berücksichtigt werden - was meinen Sie damit?
Wie gesagt: Digitalisierung und Vernetzung ermöglichen uns zu gestalten, wie wir zukünftig leben, arbeiten und wirtschaften wollen. Dabei ist der Stellenwert von Arbeit aber ebenso zu verhandeln, wie die faire Verteilung von Wohlstand sowie der Zugang zu Ressourcen, Informationen und Wissen. Dieses Thema braucht eine Vision – einen Nordstern. Dieser findet sich aber nur außerhalb der Fabriken und der Wirtschaft. Effizienzgewinn und Marktwachstum - schneller, höher, weiter - ist keine Vision, sondern das Hamsterrad 4.0.
Warum hat die Industrie fünf Jahre nach dem Smart Factory-Hype Zeit verloren?
Wie bei jeder großen Veränderung braucht auch Industrie 4.0 eine Vision und eine Antwort auf die Frage nach dem "Warum". Auf beides warten die potentiellen Anwender seit Jahren vergebens. Stattdessen hören sie die pauschale Aussage, dass dies nun einmal die nicht aufzuhaltende Zukunft sei. Man fügt noch eine Prise Angst hinzu und behauptet, dass unweigerlich derjenige ins Hintertreffen gerät, der hier nicht mitmacht. Und so erleben wir bestes Push: Lösungen werden in den Markt hineingedrückt und suchen verzweifelt ein passendes Problem.
Wenn Sie heute eine Diagnose stellen müssten ...
...dann lautet diese Verunsicherung, Abwehrhaltung oder Angst, etwas zu verpassen. Diese Gefühlslage ist der Sache nicht förderlich. Da kann ich in Richtung der Protagonisten nur sagen: "Bravo! Ganze Arbeit geleistet!". Es wird lange dauern, dies zu therapieren und das Vertrauen der Unternehmen zurückzugewinnen.
Zu was raten Sie stattdessen?
Es braucht mehr Sachlichkeit, statt unhaltbarer Heilsversprechen. Statt Indoktrination braucht es die aufrichtige Diskussion der durchaus vorhandenen Chancen, aber auch der Risiken und der Illusionen – und vor allem den Mut, das Thema wirklich groß zu denken.
Muss man also das Industrie 4.0-Projekt beerdigen?
Es ist schon erstaunlich: Auf der Habenseite von Industrie 4.0 finden wir wenig außer einzelnen Anwendungen in ausgewählten Unternehmen. Anderes läuft als Prototyp im Show-Case-Modus, durchaus mit einem hohen technischen Anspruch, aber weit weg vom Einsatz in der Produktion. Auf der Sollseite hingegen finden wir sechs Jahre des „Sichbeschäftigens“ mit Industrie 4.0, welches viel Kapital und Managementkapazität in Anspruch genommen hat. Ein solches Missverhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis zieht in den Unternehmen in der Regel massive Konsequenzen für die Verantwortlichen nach sich. Für Industrie 4.0 scheint dies aber interessanterweise nicht zu gelten.
Und wie rettet man dann Industrie 4.0?Das Thema muss aus dem kleinen Karo der Fabrik heraus und darf nicht länger einseitig aus der Perspektive der Technologie und der Fabrik diskutiert werden. Man würde damit nur alte Fehler wiederholen, indem man Lösungen einführt, ohne das zugehörige Problem zu kennen und ohne Vision einer Welt von morgen.
Kennen Sie ein Industriebeispiele, die ihrer Definition von Zukunft, nahekommen?
Da gibt es noch nichts in sich geschlossenes zu sehen, wohl aber eine gewisse Richtung: Rohstoff, Produkt, Kunde – dieser Dreiklang prägt die klassische Industrie. Mit dem Produzenten als Produktentwickler und Hersteller auf der einen und dem Kunden als Nutzer auf der anderen Seite. Das ist die Pipeline. Das neue Denken sollte eher in Richtung Technologieplattform gehen, auf der zum Beispiel technisches Know-how eines Unternehmens und Patente offengelegt sind. Klingt zunächst einmal irrsinnig, hat aber einen unglaublichen Charme. Denn andere Marktteilnehmer können dann originäre Produkte mit ihren eigenen Ideen anreichern und weiterentwickeln. Der Plattformbetreiber partizipiert anteilsmäßig an allen Geschäften, die in diesem System abgewickelt werden. Dafür braucht es radikal neue Denkansätze.
Wie wird sich die industrielle Wertschöpfung ändern?
Die Produzenten glauben gerne daran, dass sie mit ihren Fabriken so etwas, wie das Hoheitsrecht auf Wertschöpfung besitzen. Wer genau hinsieht, erkennt aber schon heute Anzeichen dafür, dass die Wertschöpfung in Zukunft dezentralisiert sein wird.
Geben Sie uns ein Beispiel.
Ganz klar 3D-Drucker: Klar stehen heute erste Geräte auch in den Fabriken, künftig aber eben auch in Handwerksbetrieben, im Supermarkt oder bei mir zu Hause. Beispiel Maker-Spaces: Sie ermöglichen jedem den Zugriff auf NC-gestützte Werkzeugmaschinen. Das ist derzeit zwar technisch noch recht limitiert, aber die Fortschritte sind gewaltig. Wenn diese Orte der Wertschöpfung einmal vernetzt sind, dann wird sich einiges an Produktion dahin verlagern.
Wie sieht die Fabrik 2040 aus?
2040 wird sich ein erheblicher Teil der Wertschöpfung in flexiblen Netzwerken abspielen. Mit anderen Worten: Die Wertströme umfahren die klassischen Fabriken. Die Industrie, wie wir sie kennen hat ihr letztes Kapitel aufgeschlagen. Das ist die eigentliche Folge der Vernetzung des Digitalen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Robert Weber.
Zur Person: Professor Dr. Andreas Syska promovierte am Forschungsinstitut für Rationalisierung an der RWTH Aachen. Vier Jahre lang war er Produktionsleiter der Robert Bosch GmbH in Stuttgart, bevor er sich mit seiner Unternehmensberatung Syska 1995 selbstständig machte. Seit 1997 unterrichtet er als Professor für Produktionsmanagement an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach.