Biomechanik : German Bionic: Erstes deutsches Exoskelett will Industrie erobern
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Kassandra Bauers Weg mag ein ungewöhnlicher gewesen sein. Aber Verfechter von „interdisziplinärem Arbeiten“ würden wohl ihretwegen die Fahnen hissen. Weil der diplomierten Physiotherapeutin mit mehrjähriger Berufserfahrung die Rahmenbedingungen in ihrem Gewerbe zu prekär waren, klopfte die 26-jährige kurzerhand an die Tür der Industrie. Genauer gesagt bei German Bionic, dem ersten deutschen Hersteller, der Exoskeletten für den Einsatz in der industriellen Produktion entwickelt und fertigt. Für CEO Peter Heiligensetzer war Bauers Anstellung zuerst doch eher ungewöhnlicher Personaldeal, „der aber heute nicht mehr wegzudenken ist“, so Heiligensetzer. Bauer ergänze jenes biomechanische Wissen das seinen Ingenieuren für die Entwicklung fehlt. Und seit der Exoskelett-Premiere auf der heurigen Hannover Messe ist auch klar: Die Industrie giert nach Assistenzsystemen für die Produktion, denn demografischer Wandel und die Abnahme von motorischen Fähigkeiten bei Jugendlichen sind Themen die schon sehr bald schlagend werden.
Marktvolumen von 4,65 Milliarden US-Dollar
Sechs Jahre dauerte die Entwicklung eines ersten Prototypen Cray X. Dieser musste mehrere Tests in Industrieunternehmen überstehen, bevor es Ende 2017 in die Kleinserienfertigung ging. Für die Augsburger steht jetzt die Skalierung sowie die technologische Weiterentwicklung im Vordergrund. Das Ziel: „Unsere Stellung als einziger deutscher Anbieter von aktiven Exoskeletten für den Einsatz in der Produktion weiter auszubauen“, so Heiligensetzer. Dass der Markt für leistungsfördernde und Gesundheit schonende Exoskelette in Zukunft deutlich steigen wird – darüber sind sich viele Studien einig. Die International Federation of Robotics schätzt, dass im Jahr 2015 rund 370 Exoskelette verkauft wurden. Im Jahr 2019 sollen es schon 6.500 sein. Neueste Studien von BIS Research gehen für das Jahr 2026 sogar von einem Marktvolumen von 4,65 Milliarden US-Dollar aus. Die Arbeit in den Fabriken wird sich also nicht nur durch kollaborierende Roboter verändern – auch Exoskelette könnten zum „Gamechanger“ werden.
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Technik und Biologie verbinden
German Bionic will aber keinen Übermenschen für die Produktion erschaffen, „sondern Arbeitnehmer durch physische Ergonomieunterstützung vor gefährlichen Bewegungsrichtungen schützen“, erklärt Heiligensetzer. Und damit treffen die Augsburger wohl den Nagel auf den Kopf, denn laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) sind Muskel- und Skeletterkrankungen (kurz MSE) für 23 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland verantwortlich. Für die Produktionen heißt das ein Ausfall im Wert von geschätzten 10 Milliarden Euro. Ursachen für MSE sind vor allem körperliche Fehlbelastungen beim Heben und Tragen im Beruf. Das Exoskelett Cray X soll hier den Kompressionsdruck im unteren Rückenbereich verringern. Damit aber das Gestell seinen Träger nicht krumm macht, die Schnallen und Gurte keine Blutgefäße absperren, nutzten die Augsburger Ingenieure das biomechanische Wissen von Bauer. Die übrigens auch gerne mal selbst Hand anlegt, und Teile schraubt und sägt, bis sie ihrem ergonomisch kritischen Auge genügen.
Zwei verschiedene Einsatzszenarien
Cray X unterstützt seine Benutzer derzeit in zwei Modi, die von einer Smartwatch gesteuert gesteuert werden. Erster Modus: „Kommissionierarbeiten in einer Zwangsposition“, erklärt Bauer. „Das Skelett unterstützt Mitarbeiter die viel in einer statisch gebeugten Haltung arbeiten müssen.“ Der Benutzer kann sich komplett in das Exoskelett „reinhängen“ und wird gestützt, die Rückenmuskulatur entlastet. (Anm. Factory hat es auf der Hannover Messe ausprobiert – es funktioniert.) Der zweite Modus soll vor gefährlichen Bewegungen im Überlastungsbereich schützen. Sprich es entlastet den unteren Rücken des Trägers beim Heben von schweren Gegenständen, indem es Bewegungen aktiv-assistiv nachahmt und verstärkt. Dazu nutzen die Augsburger ein Elektromyografie (EMG)-Armband, das die Muskelspannung im Arm misst. „Sobald jemand die Hand um das zu hebende Bauteil schließt, erkennt das Armband dies und signalisiert dem Exoskelett zu unterstützen“, erklärt Bauer. Wichtig ist, dass das Exoskelett hier nur unterstützt, einem aber die Bewegung nicht vollkommen abnimmt. Das würde nämlich zu Muskelabbau führen. Bauer vergleicht es gerne mit einem E-Bike, weil anhand der Smartwatch der Stärkegrad der Unterstützung eingestellt werden kann.
Schaffung altersunabhängiger Arbeitsplätze
Um die Forschung von intelligenten Mensch-Maschinen- und KI-Systemen voranzutreiben, arbeitet CEO Heiligensetzer an der Entwicklung einer Software-Plattform, die auf Open Source-Technologie und offenen Standards basiert. Hierüber sollen gewonnene Daten zum Zweck der Weiterentwicklung des Cray X und anderer aktiver Systeme zu Analyse- und Forschungszwecken anonymisiert und frei verfügbar gemacht werden. Neben der Verringerung der Kosten für das Gesundheitswesen steckt in dieser Technologie nämlich das Potential, ein weiteres drängendes Problem der Gesellschaft anzugehen. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und eines postulierten Fachkräftemangels ermöglichen Exoskelette die Schaffung altersunabhängiger Arbeitsplätze. Und das zieht sich durch sämtliche Branchen. Kein Wunder also, dass German Bionic auf der auf der Hannover Messe neben der Automobilindustrie auch Besuch von Pflege- und Bestattungsunternehmen hatte.
Für Kassandra Bauer war der Schritt in die Industrie jedenfalls genau richtig und sie will auch andere Physiotherapeuten dazu ermutigen. Was reizt, sei die Verbindung von Technik und Biologie, die sogenannte Biomechanik. „Mit ihr will ich Muskel- und Skeletterkrankungen schon behandeln können, noch bevor es eine Physiotherapie überhaupt braucht“, erklärt sie. Liefert German Bionic ein Exoskelett an einen Industriekunden ist Bauer meistens mit dabei und schult die Mitarbeiter. Denn das Gerät vermeidet zwar einiges an Schäden, aber eben nicht alles. Richtiges Heben und Tragen will immer noch gelernt sein, so Bauer.
German Bionic Cray X
Was: Ein Exoskelett das den unteren Rücken des Trägers beim Heben von schweren Gegenständen entlastet, indem es Bewegungen aktiv-assistiv nachahmt und verstärkt.
Gewicht: 7,9 kg
Akkulaufzeit: 8 Stunden
Lastunterstützung: 15 kg
Assistenz: Steuerung per Smartwatch und EMG-Armband
Einsatzbereiche: Maschinenbe- und nachfüllung, Verpackung und Versand fertiger Teile, Warenentnahme aus regalen, Kommissionierarbeiten, Be- und Entladen von Transportern/LKWs
German Bionic erleben auf der Automatica 2018 👉🏽 Halle B4, Stand 333