Industrie 4.0 : Digitaler Assistent: Warum Geislinger in der Fertigung einem Algorithmus vertraut
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Wer die Produktionshallen von Geislinger in Bad St. Leonhard betritt, dem fallen wohl als erstes die vielen Bildschirme auf. Aber macht eine fast papierlose Fertigung ein Werk schon zu einem Industrie 4.0-Vorzeigebetrieb? Wohl kaum. Doch die Kärntner gelten nicht umsonst als einer von Österreichs geheimen Hotspots, wenn es um eine Fertigung nach höchsten digitalen Maßstäben geht. In Bad St. Leonhard werden Einzelteile für mehr als 15.000 Produkte pro Jahr gefertigt, wie z.B. Windkraftkupplungen für Windräder. Eine Fertigung, die nicht nur mit hoher Teilevielfalt kämpft sondern auch verschiedene Fertigungsvarianten und terminliche Flexibilität beherrschen muss. Und genau dafür haben sich die Kärntner digitale Hilfe geholt. In Eigenregie haben sie einen Fertigungsleitstand entwickelt, der sich nicht nur selbst optimiert, sondern auch laufend den Fortschritt aller aktiven Fertigungsaufträge errechnet. Stündlich errechnet der „digitale Assistent“ so eine neue Auftragsreihung für jeden Arbeitsplatz. Er checkt Termine, die Verfügbarkeit von Ressourcen wie Personal, Material und Vorrichtungen sowie alternativ mögliche Fertigungsvarianten und vernetzt damit Mensch und Maschine par excellence.
Ein digitaler Navigator, der Fertigungsabläufe plant
Für Josef Tinzl funktioniert der Leitstand wie ein Navigationsgerät: „ Er zeigt uns allen die Richtung an“, so der Werksleiter. Wenn sich also bei den Kärntnern ein Parameter ändert, weil es zum Beispiel eine Störung gibt, reagiert der digitale Assistent sofort, leitet Aufträge um und verteilt Aufgaben neu. Und damit die daraus entstehende Dynamik ständig und überall ersichtlich ist, gibt es auf jedem Stapler, an jedem Arbeitsplatz, bei jeder Teamstationen und über jeder Produktionseinheiten die eingangs erwähnten Bildschirme. Diese liefern aber nicht nur Infos zu den Arbeitsprozessen, sondern helfen auch bei der Schulung der Mitarbeiter. Über ein am Arbeitsplatz abrufbares E-Learning Programm bleiben diese immer am aktuellen Stand. Bei Störungen bekommen sie eine Lösungs-Anleitung auf den Bildschirm geliefert. Der digitale Assistenz sorgt auch dafür, dass die Mitarbeiter schon Stunden zuvor wissen, welche Werkzeuge, Materialien für welchen Auftrag vorbereitet werden müssen.
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Ein Algorithmus, der sich selbst optimiert
Macht also dieser Leitstand die Geislinger-Fertigung zum Industrie 4.0-Beispiel aus dem Lehrbuch? Könnte man wohl so sagen. Aber was heute funktioniert wie von Zauberhand, brauchte viele Jahre um zu reifen. Schon als Tinzl 1997 in das Unternehmen kam, hatten die Kärntner dort schon mit der Vorgängerversion gearbeitet. Über die Jahre seien Einsatzgebiete und die Softwareanwendungen immer weiter gewachsen. In vielen Fällen gab es jedoch keine passende Software oder erschwingliche Schnittstellen. Und so habe man sich selbst an die Arbeit gemacht und feilt nun seit über 20 Jahren an der eigenen Version von Industrie 4.0. „Und wenn ich eines in all der Zeit gelernt habe, dann das: Es ist ein Prozess, der nie endet“, remsümiert Tinzl. „Wenn man sich für diesen Weg entscheidet, muss man ihn auch konsequent verfolgen.“ Dass dies bei Geislinger der Fall sei, liege vor allem an der Innovationsfreudigkeit der Geschäftsführung, so Tinzl: „Cornelius Geislinger ist Innovation sehr wichtig, er motiviert seine Mitarbeiter laufend an neuem zu arbeiten.“ Gerade bei der Digitalisierung ergebe sich die Notwendigkeit von Weiterentwicklungen oft von selbst. So haben die Kärntner z.B. vor einem Jahr eine eigene MES-Arbeitsgruppe gegründet, die dem Thema Produktionsdaten in Echtzeit nochmal mehr Fahrt verleihen soll.
Betriebsinternes Facebook für verbesserte Kommunikation
Ein wichtiges Projekt, an dem man aktuell arbeitet, ist die Einführung der Software „IBM Connections“ in den Produktionsprozess. Dabei handelt es sich um eine Art betriebsinternes Facebook. „Man kann in Gruppen oder im öffentlichen Bereich über Themen diskutieren, Verbesserungsvorschläge machen, sich austauschen“, erklärt Tinzl. Bei 530 Mitarbeitern, die im Drei- oder Vier-Schicht-Betrieb arbeiten, keine leichte Aufgabe. „Aber eine besonders wichtige“, wie Tinzl sagt. „In dieser Unternehmensgröße ist es nicht mehr möglich, dass sich die Mitarbeiter und Führungskräfte ständig persönlich austauschen, manche sehen sich wegen ihrer Arbeitszeiten auch nur selten.“ Seit einem Dreivierteljahr arbeiten die Kärntner schon damit und man komme nun endlich dem Ziel einer verbesserten Kommunikation näher. Damit sollen künftig Fehler vermieden und die Produktivität gesteigert werden. Für Tinzl ist es wichtig zu verstehen, dass die Mitarbeiter dieses System immer weiter voranbringen. „Zuerst, indem sie die Software weiterentwicklen. Später, indem sie das System mit Informationen füttern“, erklärt er. Aber wieder: Was heute sehr gut funktioniert, war in den Anfangsjahren keine Selbstverständlichkeit. „Es gab eine gewisse Skepsis. Gerade für Führungspersonen war es schwierig, wichtige Aufgaben wie Personaleinsatz oder Auftragsvergabe von einer Software planen zu lassen“, erinnert sich Tinzl. Mit der Zeit habe sich aber gezeigt, dass diese Art der Planung tatsächlich besser funktioniert.
Zu viel Bedeutung will Josef Tinzl dem digitalen Assistenten in seinem Werk aber auch nicht beimessen. Auf die Einstiegsfrage, ob die Anlagen bei Geislinger miteinander kommunizieren und die Arbeit fast autonom erledigt wird, zieht er die Augenbrauen in die Höhe und schüttelt den Kopf: „Die Anlagen sind vernetzt, aber automatisch im Sinne von vollautomatisch geht gar nichts. Die Software hilft uns, besser zu planen und besser zu arbeiten. Nicht mehr – und nicht weniger.“
Über Geislinger: Die Geislinger GmbH wurde vor 60 Jahren in Hallwang (Salzburg) gegründet. Heute ist das österreichische Familienunternehmen, das von Cornelius und Matthias in dritter Generation geführt wird, weltweiter Qualitäts- und Innovationsführer bei Drehschwingungsdämpfern und drehelastischen Kupplungen aus Stahl und Faserverbund. Es werden rund 700 Mitarbeiter beschäftigt, davon 530 im Werk in Bad St. Leonhard. Neben dem Hauptsitz in Hallwang und dem Werk in Bad St. Leonhard gibt es noch Standorte in Battle Creek (USA), Busan (Korea), Kobe (Japan) und Suzhou (China). Die Exportrate beträgt 99 Prozent: Hersteller von Großmotoren auf allen Kontinenten setzen die Geislinger’sche Hightech-Produkte in Windkraftanlagen, Schiffen, Großbaggern und Kraftwerken ein. Die Teile werden in der Zentrale in Hallwang entwickelt und konstruiert, die Fertigung der Komponenten erfolgt in Bad St. Leonhard im Lavanttal.