Remote Fabrik : Die ferngesteuerte Fabrik: technische Spielerei oder Realität?
Die Coronakrise zwang Arbeitgeber und Arbeitnehmer innerhalb weniger Wochen ihre Arbeitspraktiken zu ändern. Neue Technologien halten mit Home-Office und Fernzugriff schneller Einzug. In Produktionen wird abwechselnd in kleinen Teams gearbeitet, um mögliche Infektionen einzudämmen. Die Situation beflügelt die Phantasien über ferngesteuerte Fabriken. Technische Grenzen gibt es hie und da noch, wie Horst Orsolits von der FH Technikum Wien weiß. Er leitet an der FH die Kompetenzfelder Virtual Technologies und Systems Engineering und begleitet die Entwicklung der digitalen Fabrik der Fachhochschule. Er vermittelt Studierenden, wie sich Maschinen und Anlagen für die Praxis in der virtuellen Welt abbilden lassen. Was möglich ist und wo es noch fehlt, hat er FACTORY verraten.
Basisanforderungen am Remote Factory
Die Machbarkeit einer ferngesteuerten Fabrik hängt vom Automatisierungsgrad ab. „Betriebe, die sehr hoch automatisiert sind und große Stückzahlen fertigen, könnte die Idee einer Remote Factory funktionieren. Bei Kleinserien oder wenig automatisierten Produktionsbetrieben sehe ich weniger Potenzial. Der Einsatz an Kosten und Knowhow wäre gewaltig,“ erklärt Horst Orsolits. Doch auch die Bits und Bytes müssen fließen. Eine menschenleere Fabrik benötigt eine stabile Infrastruktur. Bandbreite oder Geschwindigkeit sind dafür essenziell. Orsolits sieht hier einen Schwachpunkt: „Wenn plötzlich ein großer Bedarf an Bandbreite besteht, bedeutet das entweder Datenverlust oder die Daten kommen langsamer an. Mit den vorliegenden Bandbreiten sind rasch Grenzen erreicht, das zeigt sich derzeit bei Webmeetings. Umgelegt auf ferngesteuerte Fabriken bildet die derzeitige technische Infrastruktur noch den Flaschenhals. 5G verspricht dahingehend jedoch viel Potential für zukünftige Anforderungen.”
Schwachpunkt fehlende Datenstrategie
Mit den verfügbaren Bandbreiten können Daten nicht im Millisekundentakt in ein Cloud-System gestreamt werden. Die Anwender müssen sich überlegen, wann welche Information in welcher Ausprägung nötig ist. „Kommen Sensoren hinzu, und erreicht die SPS ihr Limit, ist die Lösung in der Praxis pragmatisch: Entweder wird die nächst größere SPS besorgt oder um eine zweite erweitert. Das spielt es mit Speicherkapazitäten und Bandbreiten derzeit nicht. Unternehmen brauchen eine sinnhafte Datenstrategie.“ Überlegungen zu einer vernünftigen Datenstrategie müssen Maschinenbauer gemeinsam mit Kunden, Cloudanbieter und Infrastrukturpartnern anstellen. “Unabhängig davon, ob eine autonome Fabrik angestrebt wird oder nicht, am Thema Datenmodellierung werden die Betreiber von Maschinen und Anlagen nicht umhinkommen,” sagt Orsolits.
Menschenleer, sicherheitshalber nur in der Theorie?
Rein technisch ist für den Experten Remote-Control vorstellbar: „Zum Steuern muss im Grunde nur die Richtung der Informationen umgekehrt werden. Wenn ich jetzt Betriebszustände auslese, funktioniert das über die Sensoren ohne Probleme.” Es gibt jedoch ein Aber: die Sicherheitsfunktionen. Der Experte ist überzeugt: „Mit sicherheitskritischen Ereignissen steht und fällt die Machbarkeit einer Remote Factory.“ Eine Lights-out-Fabrik – wie solche Konzepte auch genannt werden - braucht keine Personen vor Ort. So die Theorie. Kommt es jedoch zu einem Wartungsfall, werden Menschen an den Anlagen arbeiten müssen. Entsprechende Sicherheitseinrichtungen, wie Lichtgitter, Laserscanner oder Not-Aus, sind notwendig. „Systeme, die das Sicherheitssystem betreffen, sind hochgradig zeitkritisch. Sie müssen in einer Reaktionszeit von wenigen Millisekunden auslösen können. In Gremien und Plattformen wird die Umsetzbarkeit in diesem Kontext immer wieder diskutiert,“ erklärt Orsolits.
Valide Sensordaten
Personensicherheit lässt sich für Orsolits nicht aus der Ferne lösen: „Ich bezweifle, dass es einen Remote-Not-Aus auf einer Tastatur geben wird. Der Not-Aus wird weiterhin „hart“ verdrahtet und direkt bei der Maschine sein. Letztendlich ist das eine der wichtigsten Steuerungsmöglichkeiten.“ Für Sicherheitsinstallationen werden Sensorikhersteller noch Lösungen liefern müssen, speziell für die 3D-Überwachung oder das 3D-Scannen von Räumen. Dabei vergisst der Anwender oft, Sensordaten sind nicht gleich Sensordaten. „Je mehr der digitale Wert ins Zentrum rückt, umso wichtiger wird die Validität der Quellen.“ Solange aus der Ferne nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob eine Person einer Gefahr ausgesetzt ist oder ein Umbau stattgefunden hat, der im digitalen Abbild nicht erfasst wurde, bringen ferngesteuerte Anlagen mehr Schaden als Nutzen.
Steuerung oder Sensor: kann das gemeinsam funktionieren.
Wenn smarte Sensoren die Aufgaben einer SPS übernehmen, reicht ein Cloudsystem zur Steuerung aus. Der Maschinenbauer verwendet Sensoren mit der entsprechenden „Intelligenz“ und entscheidet damit wie weit ein Cloudsystem eine SPS ablösen kann. Bei SPS-as-a-Cloud werden die Sensordaten ausschließlich über das Internet ausgewertet und die Intelligenz in der Cloud steuert die Aktoren. „Von Echtzeitsystemen sind die Angebote am Markt noch weit entfernt. Es gibt jetzt bereits Cloudsysteme die SPS-as-a-Cloud-Service am Markt präsentieren. Die Marktdurchdringung schätze ich derzeit noch gering ein. Die dezentralen Systeme sind noch nicht weit genug fortgeschritten, damit die wichtigsten Entscheidungen vor Ort auf der Maschine, und insbesondere von der Maschine getroffen werden,“ so Orsolits.
Das Henne-Ei-Problem der Datensicherheit
Die Remote-Steuerung von Aktoren und Auswertung von Sensoren funktioniert in der IIoT-Praxis bereits recht gut. Die Datensicherheit ist noch ein Schwachpunkt. Vor dem Hintergrund der Datensicherheit setzt sich SPS-as-a-Cloud am Markt schleppend durch. „Am Technikum Wien erforschen wir derzeit, welche Aufgaben intelligenter Produktionssysteme von Sensoren bzw. Aktoren direkt, übergeordnet in der Steuerung bzw. im nächsthöheren Level, der Cloud übernommen werden können und was die Verschiebung der Intelligenz in beiden Richtungen weg von der Steuerung für Auswirkungen hat.“ berichtet Orsolits. Der Weg zu einer Remote Factory führt nach Ansicht von Orsolits über etablierte Schnittstellen: „In der Industrie committet man sich zwar zu OPC UA, in der Praxis zeigen sich aber noch viele Hürden. Datensicherheit hemmt hier die Entwicklungen.“ Speziell in der Automobilbranche vertritt man noch immer den Standpunkt: „Unsere Halle verlässt kein Bit.“ Die Halle bleibt offline. Doch wenn kein Bit hinauskommt können einerseits die Hersteller nicht aus der Praxis lernen, andererseits wiederspricht es einer Fernsteuerung.
Telepräsenz als realistischer Entwicklungsschritt
Unterm Strich lässt sich festhalten, selbst jedes 100-prozentig automatisierte System läuft nur für eine zeitliche Befristung autonom. „Was ich mir vorstellen kann - was in der Medizintechnik etabliert ist - ist Telepräsenz,“ so Orsolits. Das Da-Vinci-Operationssystem veranschaulicht die Vorteile vom Zusammenspiel von Mensch und Technik. Der Arzt steuert den Roboter über eine Konsole. Die Arme des Roboters besitzen eine höhere Beweglichkeit und kompensieren etwa ein Zittern des Operateurs. Bei einem solchen System operiert ein Wiener Herzchirurg einen Patienten in Boston. Eine exklusive Datenleitung sichert eine stabile Verbindung. Dass ein Techniker einen Roboter auf einem anderen Kontinent steuert und umprogrammiert, ist durchaus vorstellbar.
Umrüsten, anpacken, adaptieren
Von einer vollständigen Autonomie sind ferngesteuerte Fabriken noch weit entfernt. Erste Ansätze lassen sich jedoch schon heute nutzen und es hängt sehr stark vom Einzelfall ab. „Sehen wir uns jedoch den Maschinenpark eines klassischen mittelständischen Maschinenbauers an, stehen dort auch zwanzig Jahre alte Maschinen. Bei denen man überhaupt froh ist, wenn sie auf einem seriellen BUS kommunizieren. Solche Unternehmen wird man nicht ohne Weiteres mit einer Cloudlösung auf die nächste Stufe heben können,” sagt Orsolits.
In bestimmten Bereichen braucht es weiterhin den Menschen, der in Situationen flexibel reagiert und eine schnelle Auffassungsgabe besitzt. Temporär sind Lights-out-Manufacturing möglich, doch ganz ohne Menschen wird die Industrie nicht auskommen. Dort wo man einfache Teile produziert ist es eher vorstellbar. Dauerhaft lassen sich die Lichter in den Fabriken nicht ausschalten, so wie es der Begriff „Lights-Out-Manufacturing“ propagiert. Es gibt Piloten von menschenleeren Fabriken und vor allem bei hochautomatisierten Herstellungsverfahren ist es vorstellbar. Auch wenn sich eine Remote Factory technisch realisieren lässt, steckt dahinter immer auch eine Geisteshaltung: Wenn der Mensch die wichtigste Ressource ist, sind Assistenzsysteme eine bessere Wahl als menschenleere Fabriken.