Künstliche Intelligenz : Oscar: digtaler Co-Pilot bei der Seefahrt

© Simlinger/TIM

Mit über 80 km/h (rund 45 Knoten) sind Rennsegelbote auf den Weltmeeren unterwegs. Um die Skipper – insbesondere in der Nacht und bei Schlechtwetter – bei deren Arbeit zu unterstützen, entwickelte BSB Artificial Intelligence (BSB AI) aus Linz Oscar (Optical System-based Collision Avoidance for Racing). Das Marine-Assistenz-System zur Vermeidung von Kollisionen erkennt nicht nur mögliche Hindernisse wie andere Boote, Treibgut, Wale oder auch Bojen, sondern leitet bei Bedarf gleichzeitig ein Ausweichmanöver ein. Damit eröffnet sich für Oscar freilich ein weites Anwendungsgebiet abseits der Seefahrt: Etwa bei End-of-Line-Prüfständen oder beim autonomen Fahren.

Oscar erschließt großes Potenzial

Wie groß das Potenzial von Oscar ist, zeigt alleine das Engagement von drei Gewinnern der Vendée Globe, die entlang des Südpols einmal rund um die Welt führt und als härteste Einhandregatta der Welt gilt. Vincent Riou, François Gabart und Armel Le Cléac’h arbeiten an der Entwicklung mit. „Derartige Leuchtturm-Projekte mit unserer Expertise und unseren Kontakten zu Forschungseinrichtungen und Fördergebern zu unterstützen, ist unsere Kernaufgabe“, erklärt TIM-Projektleiter Alois Keplinger. Mittlerweile sind rund drei Millionen Euro in die Entwicklung von Oscar geflossen. Sowohl die Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) als auch die Austria Wirtschaftsservice (AWS) haben großzügige Beiträge geleistet. „Diese finanzielle Unterstützung und die technologische Beratung durch Prof. Markus Vincze vom Institut für Automatisierungs- und Regelungstechnik an der TU Wien haben uns wichtigen Rückenwind gegeben“, erklärt BSB Artificial Intelligence-Geschäftsführer Raphael Biancale. „Die Projektbegleitung durch TIM und Alois Keplinger hat die Rahmenbedingungen zur Entwicklung von Oscar wesentlich erleichtert.“

Atlantiküberquerung als Initialzündung

In einem äußerst unbehaglichen Moment hat Raphael Biancale den Entschluss gefasst, die Sicherheit auf Segelbooten erhöhen zu müssen. Diesen Moment erlebte der gebürtige Franzose im Oktober 2013 auf einer Atlantiküberquerung von Frankreich in die Karibik. „Als ich mich einer sehr windigen, kalten, verregneten Nacht komplett durchgefroren von Deck in die Kajüte zurück schleppte, wurde mir bewusst, dass ich keine Ahnung habe, was in diesem unermesslich großen Ozean treibt.“ Der Ingenieur, der mit seiner Firma BSB Driveline Solutions in erster Linie Simulationsmodelle für Antriebsstrangkomponenten und deren Regelung erstellt, wollte diese Wissenslücke schließen. Dafür hat Biancale 2017 eine eigene Firma gegründet, deren Name schon den technologischen Ansatz verrät. Die BSB Artificial Intelligence GmbH setzt bei der Erkennung von Hindernissen auf Farb- und Langwellen-Infrarotkameras, ein unermesslich großes Bildarchiv, viel Handarbeit und Künstliche Intelligenz.

Maritime Sammel- und portugiesische Handarbeit

Es sind vier Rennjachten, ein Fischerboot und das Segelschiff von Raphael Biancale, die jene Bilddatenbank füttern, welche die Basis für Oscar liefern. „Ein Schiff liefert pro Tag rund 200 Gigabyte an nicht komprimierten Daten. Das entspricht in etwa der Datenmenge von 66 Stunden Film in HD-Qualität“, erklärt Biancale. Aufgenommen werden diese Bilder von einem Kameramodul mit zwei Kamerasystemen, welches am Mast des Segelschiffes befestigt ist: Eine Kombination aus Farbbildkamera und Wärmebildkamera (Langwellen-Infrarotkamera) liefert sowohl bei schlechter Sicht als auch bei völliger Dunkelheit Daten. „Die meisten Bilder zeigen nur Wasser“, sagt Biancale. „Jene Bilder, auf denen Hindernisse zu erkennen sind, werden hingegen sehr genau analysiert und sind die Grundlage für die Entwicklung des Algorithmus zur Datenanalyse.“ Im BSB-Standort in Portugal werden händisch jene Aufnahmen gesichtet, auf denen Hindernisse im Meer zu erkennen sind. Unterstützt durch eine spezielle Annotierungs-Software werden etwa Baumstämme, Container, Wale, Delphine, Boote aller Art oder auch Algenteppiche und Menschen als Hindernisse markiert und kategorisiert. Diese Objekte werden in unzähligen Erscheinungsformen aus verschiedensten Perspektiven und Distanzen in unterschiedlichsten Wetter- und Lichtsituationen in einer Datenbank abgespeichert. Die Künstliche Intelligenz lernt aus diesen Daten und sorgt dafür, dass etwa Fischerboote auch im realen Einsatz im Wasser immer zuverlässig als solche erkannt werden.

Venezianische Verwirrung

Wie wichtig es ist, den Algorithmus ständig mit neuen Daten zu trainieren, zeigt eine ernüchternde Erfahrung, die Biancale zu Beginn des Projektes machen musste. „Bei einem Segelturn vor Venedig hat ein Prototyp nur wenige Objekte im Wasser erkannt“, erinnert sich der begeisterte Segler an einen herben Rückschlag. Routinemäßig wurden auch dabei alle gesammelten Aufnahmen ausgewertet, kategorisiert, in die Datenbank eingespeist und die Künstliche Intelligenz damit trainiert. „Zwei Wochen später waren wir wieder in Venedig und plötzlich hat Oscar alles zuverlässig detektiert.“ Wie die Datenanalytiker jetzt wissen, waren es die für Venedig typischen Dalben (Holzpfähle im Wasser), die das System nicht zuordnen konnte. „Auch Wassertropfen auf den Linsen sorgen für verzerrte Bilder, mit denen wir den Algorithmus trainieren müssen“, präzisiert Oscar-Projektleiter Martin Kattner. Auch auf die für den asiatischen Raum typischen Mast- und Segelformen müsse der Algorithmus noch trainiert werden. „Deshalb werden wir auch noch in allen Ozeanen Bilddaten sammeln und in unser System einspeisen.“

Vom Spitzensport in Amateurboote

Dass es von Oscar mittlerweile bereits eine markttaugliche Vorserie für Segelprofis gibt, ist auch einer günstigen Marktentwicklung zu verdanken. So hat sich der Preis von Langwellen-Infrarotkameras in den letzten Jahren von 7.000 auf rund 2.500 Euros reduziert. Mitsamt des leistungsstarken Single Board Computers, der Kollisionserkennungs-Software und der App für die Steuerung via Computer, Tablet oder Smartphone kostet Oscar rund 25.000 Euro. Da der Markt an Profiseglern aber für den wirtschaftlichen Erfolg von Oscar zu klein ist, arbeitet das BSB-Team längst an einer Version für passionierte Amateure. Diese soll knapp ein Drittel kosten, regelmäßige Updates umfassen und über eine Schnittstelle zum Autopiloten Ausweichmanöver automatisiert berechnen und durchführen. „Das ist ein riesengroßer Markt mit drei Millionen potenziellen Kunden“, erklärt Firmengründer und Geschäftsführer Raphael Biancale. Bis 2020 soll dafür ein EU-weiter Vertrieb aufgebaut werden. In der Zwischenzeit wird Oscar auch in Küstennähe und in Hafenbereichen trainiert, um Manöver auf engstem Raum durchführen zu können. „Unser Ziel ist die komplette Autonomie“, sagt Biancale. Potenzial sieht BSB allerdings auch abseits des Wassers. Die Spezialisierung auf maschinelles Sehen in sehr verrauschten Umgebungen sollte es möglich machen, Thermalkameras als redundante Objekterkennungssensoren für autonomes Fahren anzubieten. „Wir arbeiten auch an Navigationslösungen mit typischen Sensor-Konfigurationen mit Radar, LiDar, RGB- und Thermal-Kameras, wie es autonome Fahrzeuge brauchen.“ Ein erster Demonstrator sollte bereits nächstes Jahr in der Lage sein, die Lagune von Venedig selbständig zu befahren.