Maschinenbau : Modellbasierte Entwicklung: Gibt es noch Berührungsängste?

Philipp Wallner Mathworks
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Factory: Herr Wallner, modellbasierte Entwicklung, digitaler Zwilling - wie stark sind denn noch die Berührungsängste in der Branche mit diesen Thematiken?

Philipp Wallner: Es sind jetzt bereits 10 Jahre, die ich mich mit der modellbasierten Entwicklung im Maschinenbau auseinandersetze – und ich blicke dabei durchaus auf harte Anfangszeiten zurück. Oft musste ich mich der Frage stellen: „Welchen Mehrwert bringt die Simulation, wenn ich doch die Funktionstüchtigkeit der Maschine durch einfaches Einschalten und Ausprobieren verifizieren kann.“

Doch in Zeiten der allgemeinen Digitalisierungswelle sind diese „Mehrwert-Diskussionen“ weitestgehend passé. Richtig?

Wallner: Richtig. Kaum ein technischer Entscheidungsträger zweifelt heute noch daran, dass Modellbildung, Simulation und automatisierte frühzeitige Verifikation der Maschinenfunktionalität fixer Bestandteil jedes zukunftssicheren Entwicklungsworkflows sein muss.

Wie haben Sie es geschafft, die Maschinenbauer zu überzeugen?

Wallner: Es war vor allem die enge Zusammenarbeit und gemeinsame Argumentation mit den Steuerungsherstellern, die viele Maschinenbauer überzeugte, dass modellbasierte Simulation in Kombination mit automatischer Codegenerierung ein geeigneter Weg ist, die Herausforderungen immer komplexerer mechatronischer Systeme zu meistern.

Welche Erfolgsparameter können Sie generell bei den Projekten verbuchen?

Wallner: Der wichtigste Erfolgsparameter in den Projekten liegt fast immer in der Verkürzung von Entwicklung und Inbetriebnahme der Maschinen. Sprich: einer signifikante Zeit- und Kosteneinsparung bei den Kunden.

Und das erreichen Sie wie?

Wallner: Der erste Schritt in der modellbasierten Entwicklung ist üblicherweise die Simulation eines Streckenmodells – also eines Modells der Maschine oder Anlage – in Kombination mit der gewünschten Funktionalität, zum Beispiel einer Ablaufsteuerung oder einem Regler. Dabei kann bereits frühzeitig in der Desktopsimulation verifiziert werden, ob die Anforderungen des Kunden oder des eigenen Produktmanagements erfüllt sind. Zu diesem Zeitpunkt muss sich der Entwickler noch nicht entschieden haben, welche Automatisierungskomponenten später an der Maschine zum Einsatz kommen und kann die Funktionalität unabhängig von der konkreten Implementierung auf einer SPS, einem Industrie-PC oder einem FPGA testen. Zudem erlaubt die Desktopsimulation automatisierte Tests unterschiedlichster Szenarien. Diese frühzeitige Absicherung der Funktionalität verkürzt später die Inbetriebnahme der physikalischen Maschine signifikant.

Der Mehrwert von Simulationsmodellen liegt ja nicht nur in der Verkürzung der Entwicklungszeit. Was können Sie noch ins Feld führen?

Wallner: Modelle, die eine virtuelle Repräsentation der Anlage, der Maschine oder einzelner mechatronischer Komponenten darstellen, leisten auch nach der Inbetriebsetzung durchaus Mehrwert - und zwar in Form eines digitalen Zwillings. Dieser läuft über die gesamte Lebenszeit der Maschine hinweg parallel zum physischen System und sorgt unter anderem dafür, dass Fehler im Betrieb frühzeitig erkannt, isoliert und behoben werden. So lässt sich der digitale Zwilling zum Beispiel in Form eines Echtzeit-Simulationsmodelles kontinuierlich mit Betriebsdaten füttern und die Simulationsergebnisse mit den am physischen System gemessenen Daten vergleichen. Driften die beiden Messreihen auseinander, weiß der Betreiber, dass an der Anlage etwas nicht stimmt und kann dann mithilfe des Simulationsmodells auf die Suche nach der Ursache gehen.

Welchen Aufwand muss ein Maschinenbauer betreiben, um einen solchen Zwilling zu erstellen und zu pflegen? Haben Sie schon Erfahrungswerte?

Wallner: Das Schöne an unserem Ansatz ist, dass der digitale Zwilling nicht von Null weg erstellt werden muss. Vielmehr dient das für die modellbasierte Entwicklung erstellte Simulink-Modell als Basis für den digitalen Zwilling, sodass nicht nur der Aufwand überschaubar ist, sondern auch sichergestellt ist, dass das Verhalten des digitalen Zwillings tatsächlich mit dem physischen System übereinstimmt. Zusätzlich bieten wir in MATLAB zahlreiche Algorithmen für Signal Processing, Machine Learning und Deep Learning, die mithilfe von Apps konfiguriert und dann mit dem digitalen Zwilling verbunden werden können.

Nochmal zu den Basics: Welche Herangehensweise an eine „modellbasierte Entwicklung“ empfehlen Sie den Maschinenbauern, um im Endstadium mit einem digitalen Zwilling arbeiten zu können?

Wallner: Wichtig ist, sich im ersten Schritt nicht gleich zu übernehmen. Die Einführung von modellbasierter Entwicklung ist ein entscheidender Schritt, der – wenn man ihn richtig setzt – zu signifikanten Zeit- und Kosteneinsparungen führt, der aber auch mit Aufwand verbunden ist und entsprechendes Domänenwissen voraussetzt. Wie der Name schon sagt, stellen Modelle die Basis für die modellbasierte Entwicklung dar. Ihre Entwicklung ist daher der erste und wichtigste Schritt im gesamten Prozess. Schließlich muss das Simulationsmodell während der Entwicklung, der virtuellen Inbetriebnahme und danach über den gesamten Lebenszyklus der Maschine hinweg als digitaler Zwilling tragen. Man sollte sich deshalb zu Beginn ein paar grundlegende Fragen stellen.

Vielen Dank für das Gespräch! Das Interview führte Theo Gärtner, Fachjournalist aus Deutschland

Das Interview ist ein Auszug aus dem Kundenmagazin von Bachmann electronic. Die ausführliche Version finden Sie online bei www.bachmann.info