Winfried Felser : Künstliche Intelligenz ist nicht der deutschen Industrie Allheilmittel

Deutschland neigt bei prinzipiell richtigen Erfolgsansätzen zur frühen Berauschung an den eigenen realen oder auch manchmal leider nur vermeintlichen Potenzialen. So war Industrie 4.0 eine ideale Basis, um die deutsche Seele zu heilen und die selbstverschuldet verlorene erste Halbzeit bei der Digitalisierung durch den „absehbaren“ Erfolg in der zweiten Hälfte zu kompensieren. Sogar die Chinesen und das World Economic Forum wollen am deutschen Wesen der Industrie 4.0 genesen!

Aufholjagd zu China und USA

Nun ist unser „absehbarer“ Künstliche Intelligenz (KI)-Erfolg in dieser neuen Internet-Welt von allem wieder ideale Basis, um im Rausch der Tiefe des Lernens und der Intelligenz die störend realen und vorauseilenden KI-Erfolge aus den USA und China vergessen zu machen. Wenn dann nur nicht die Ex-Fraunhofer Kollegen beim Abgleich von Rausch und Wirklichkeit zu ernüchternden Ergebnissen bei den Digitalisierungs- und Industrie 4.0-Bemühungen kommen und KI-Ikonen wie Prof. Sepp Hochreiter mahnen würden „Vermasselt es nicht!“ (wieder). Blödes Timing? Perfektes Timing!

Störer der KI-Euphorie

Denn die Störer der Euphorie wollen nicht in erster Linie den kollektiven Rausch beenden, vielmehr geht es in der Regel darum, in der Kritik zugleich auch Wege zur Stärkung der Erfolgsbasis aufzuzeigen. So war „R.I.P. German Industrie 4.0" eine paradoxe Intervention des Autors, um 2014 in einer fiktiven Rückschau aus dem Jahr 2020 aufzuzeigen, was falsch läuft und richtig laufen könnte. Von Markterfolgen („Umsatz") vs. exklusiver Forschung („Theorie") und Nachfrage- („Wofür?“) vs. Angebotsorientierung („Wir haben da eine Lösung, nur noch kein Problem) über neue Kollaborationslogik vs. nur neue Technologien bis hin zu Mobilisierung des Mittelstands vs. einsamer Leuchttürme – auch diese Hinweise dienten vor allem als Anregung.

Zu sehr auf Produkte fixiert

Und in der Tat: Kritiker wie der Autor wurden erhört: Es kam der Erfolgsminister Sigmar Gabriel und Ansätze wie die „Smart Service Welt“ und Beyond Industry 4.0 (KI!) ließen sowieso hoffen. Schon die fiktive Grabrede des Autors stellt dabei heraus: „Das technologie-zentrierte Paradigma war dabei keineswegs alternativlos. So betonte beispielsweise der VDI eine integrierte Sicht auf Industrie 4.0 und mit der „Aachener Perspektive" der Kollaborationsproduktivität existierte paradigmatisch durchaus eine andere Herangehensweise an das Thema …. Am FIR … wurden frühzeitig der ROI und die Produktivität betont, die aus einer besseren Kollaboration durch Vernetzung und Integration dezentraler Intelligenz (von Menschen, Anm. des Autors) entstehen.“ Und selbst Industrie 4.0-Ikone Prof. Henning Kagermann formulierte selbstkritisch: „Wir denken in Deutschland bei Industrie 4.0 immer noch zu sehr von den Produkten und Maschinen her und zu wenig von der Seite der Nutzer und seinen Bedürfnissen ausgehend“.

Kunden und die Wertschöpfung in den Mittelpunkt

Wir dürfen nicht vergessen: „The purpose of a company is to create a customer!“ Wenn die Smart Service Welt im Sinne Kagermanns ihr Versprechen einhält: „Im Mittelpunkt [… ] stehen nicht mehr die einzelnen Anbieter mit ihren klassischen Produkten und Services, sondern die Nutzer … digital aufgerüstet erwarten sie auf sie zugeschnittene Pakete von Produkten, Dienste …“, wenn wir bei der KI jenseits von Cargo-Kulten und Selbsttäuschung, die von Prof. Hochreiter und fürsorglichen Kritikern wie Thomas Sattelberger geforderte echte Substanz als Basis schaffen und wenn zugleich mit Beyond Industry 4.0 mehr geschieht, als eine technologiezentrierte Diskussion um KI und Vernetzung fortzuschreiben, dann bleibe ich hoffnungsvoll. Ich kann sogar mit einer Fortsetzung der Industrie 4.0-Treppe um eine fünfte KI-Stufe leben, wenn wir wirklich den Kunden und die Wertschöpfung in den Mittelpunkt stellen und „smart“ und „autonom“ wirklich diesen Fokus unterstützen.