Interview: Martin Riester : Widerstand: Nachhaltige Ansätze prägen die Zukunft der Ersatzteillogistik

Martin Riester

Martin Riester ist Direktor des Centers für Nachhaltige Produktion und Logistik bei Fraunhofer Austria.

- © Fraunhofer Austria

Seit mehreren Jahren ist die Logistikbranche mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, zuletzt durch die Rotmeerkrise. Welche Lehren wurden aus diesen Schwierigkeiten gezogen?

Martin Riester:
Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist, dass Resilienz unbedingt in die Unternehmensstrategien integriert werden muss. Es ist deutlich geworden, dass die Vorhersehbarkeit und Stabilität von Prozessen, wie sie in der Vergangenheit existierten, nicht mehr gegeben sind. Dies erfordert eine Anpassung der Systeme, um sowohl die notwendige Resilienz als auch Flexibilität zu gewährleisten. Die Fähigkeit, sich schnell an veränderte Bedingungen anzupassen, ist keine Option mehr, sondern eine Notwendigkeit.

Das Thema Künstliche Intelligenz steht nun schon länger im Mittelpunkt globaler Diskussionen. Welche Innovationen und Verbesserungen bringt KI speziell für den Bereich After Sales mit sich?


Riester:
Künstliche Intelligenz bietet vielfältige Möglichkeiten zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Sie ist ein Schlüsselinstrument zur Sicherung und Bewahrung von Unternehmenswissen. Gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist es wichtig, das Know-how im Unternehmen zu halten. Insbesondere in der Lagerhaltung und Bestandsoptimierung zeigt KI hervorragende Ergebnisse, indem sie präzise Bedarfsprognosen und ein effizientes Bestandsmanagement ermöglicht. Darüber hinaus unterstützt KI im Servicebereich durch den Einsatz fortschrittlicher Large-Language-Modelle. Sie ermöglicht die Bereitstellung von wertvollem Wissen für Servicetechniker, insbesondere für solche mit weniger Erfahrung, und damit die Beschleunigung von Lernprozessen. Auch die Zustandsüberwachung von Anlagen und die gezielte Planung von After-Sales-Services, von der Ersatzteilversorgung bis zur Einsatzplanung von Servicetechnikern, werden durch KI unterstützt. Diese Technologie eröffnet neue Wege in der Produktentwicklung und verbessert den gesamten Servicebereich. Zusammenfassend bietet KI eine Reihe von Ansatzpunkten zur Optimierung von After-Sales-Prozessen.

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9. ERSATZTEILTAGUNG

Versorgungssicherheit als Langstreckenlauf!

Die eigentliche Neuerung liegt in den Sprachmodellen, die einen einfacheren Zugang ermöglichen ...

Riester:
Einerseits hat die breite Öffentlichkeit eine größere Affinität zu diesen Technologien entwickelt und ihr Potenzial erkannt. Zum anderen ist der Hype auch auf technologische Fortschritte in der Vergangenheit zurückzuführen, wie z.B. die Entwicklung leistungsfähigerer Prozessoren, die bestimmte Anwendungen, die zuvor nur theoretisch denkbar waren, praktikabel und wirtschaftlich realisierbar machen. Hinzu kommt der wachsende Druck auf die Unternehmen: Sie müssen ihre Produktivität steigern. Vor diesem Hintergrund ist KI ein wirksames Instrument zur Optimierung von Prozessen und zur nachhaltigen Steigerung der Leistungsfähigkeit von Unternehmen.

Was sind die interessantesten Anwendungen, die sich jetzt abzeichnen?

Riester: Hier kommt insbesondere das Reinforcement Learning ins Spiel. Insbesondere in den Bereichen Bestandsoptimierung, Bedarfsprognose und effiziente Einsatzplanung von Servicetechnikern haben unsere Arbeiten zu praxisreifen Anwendungsfällen geführt. Ein Schlüsselelement sind dabei die Fortschritte, die wir mit LLMs gemacht haben. In einem unserer Projekte haben wir zum Beispiel eine systematische Analyse von historischen Instandhaltungsdokumentationen durchgeführt, die bisher manuell erfasst wurden. Ziel war es, aus diesen Dokumenten nicht nur durch die Erfassung, sondern auch durch die Interpretation der beschriebenen Probleme und der angewandten Lösungen zu lernen. Durch diesen Prozess ist es gelungen, einen einheitlichen Problemlösungsansatz zu entwickeln, der die unterschiedlichen Sprachen und kulturellen Hintergründe der Beteiligten berücksichtigt. Auf diese Weise wurde ein globales Netzwerk geschaffen, in dem Lösungen nahezu in Echtzeit auf der ganzen Welt zugänglich gemacht werden können.

Das Streben nach resilienten Lieferketten gewinnt zunehmend an Bedeutung, wobei Transparenz innerhalb dieser Ketten als ein kritischer Faktor angesehen wird. Wie wird diese Transparenz in den Unternehmen gelebt?

Riester: In der Praxis erweist es sich als schwierig, Transparenz innerhalb der Lieferkette herzustellen. Auch wenn sie grundsätzlich als wünschenswert angesehen wird, tragen die Unterschiede zwischen den Lieferanten bis zu einem gewissen Grad zu einer Differenzierung und damit zu einem Wettbewerbsvorteil bei. Nicht alle Unternehmen sind bereit, ihre Daten zu teilen, da diese als wertvolles Gut angesehen werden. Zudem ist die Schaffung von Transparenz durch gesetzliche Vorgaben wie das Lieferkettengesetz nicht unmittelbar umsetzbar und führt in erster Linie zu einem erheblichen administrativen Mehraufwand. Viele Prozesse sind derzeit noch nicht automatisierbar, was die Umsetzung erschwert.

Inwieweit spielt die Unternehmenskultur eine Rolle beim offenen Umgang mit Daten?

Riester: Die Bereitschaft, Daten zu teilen, ist zunächst weniger eine Frage der Kultur als vielmehr eine Frage der Verfügbarkeit von Daten. Die Frage der Kultur stellt sich erst in einem nachgelagerten Schritt, wenn geklärt ist, ob und in welcher Form Daten vorhanden sind und ob diese zur Herstellung von Transparenz genutzt werden können. Wenn sich aus der Offenlegung von Daten ein wirtschaftlicher Nutzen ergibt, zeigen sich Unternehmen in der Regel aufgeschlossen.

Im Mittelpunkt der aktuellen Bemühungen steht die Neugestaltung von Supply-Chain- und Beschaffungsnetzwerken.

Ein zunehmend diskutiertes Thema ist das Engagement für Nachhaltigkeit entlang der Lieferkette. Wie weit ist diese Bewusstseinsbildung bei Unternehmen bereits vorangeschritten?

Riester:
Es besteht kein Zweifel daran, dass sich die Unternehmen der Bedeutung der Nachhaltigkeit in ihrer Lieferkette bewusst sind. Die Herausforderung liegt jedoch in der praktischen Umsetzung dieser Nachhaltigkeitsziele. Die Verfügbarkeit bestimmter Ressourcen oder Materialien ist naturgemäß begrenzt. Daher ist die Umsetzbarkeit von Nachhaltigkeitsmaßnahmen in einigen Fällen nicht unmittelbar gegeben. Trotz dieser Herausforderungen unternehmen viele Unternehmen erhebliche Anstrengungen, um ihre Lieferketten nachhaltiger zu gestalten.

Stellen Sie einen Trend in Richtung Regionalisierung fest?

Riester: Tatsächlich sind viele Unternehmen dabei, ihre Liefer- und Beschaffungsnetzwerke umzugestalten. Es wäre jedoch zu einfach zu behaupten, dass eine umfassende Rückverlagerung stattfindet und die Lieferketten zunehmend regionalisiert werden. Vielmehr findet eine strategische Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung der Netzwerke statt. Unternehmen evaluieren intensiv, an welchen Standorten Lager am effizientesten positioniert werden können, wo sich zuverlässige Lieferanten befinden und wie Bestände optimal verteilt werden sollten, um eine hohe Resilienz zu gewährleisten. Im Mittelpunkt der aktuellen Bemühungen steht die Neugestaltung von Supply-Chain- und Beschaffungsnetzwerken. Dazu gehört die Entscheidung, wo europäische Zentrallager eingerichtet werden sollen, über welche Häfen der europäische Markt beliefert werden soll und wie Bestände strategisch platziert werden können, um Lagerkosten zu minimieren und gleichzeitig einen hohen Lieferservicegrad in Europa zu gewährleisten.

Die Herausforderung besteht darin, den Energiebedarf dieser Industrien zu stabilisieren und die Nutzung erneuerbarer Energien effektiv zu integrieren.

Im Bereich des Ersatzteilmanagements wird der 3D-Druck ja schon seit einiger Zeit als Game-Changer gesehen. Wo sehen Sie hier noch die größten Herausforderungen?

Riester: Dabei spielen technische und wirtschaftliche Grenzen eine wesentliche Rolle. Jedes Projekt ist eine Einzelfallbetrachtung, die neben den technischen Herausforderungen auch die Wirtschaftlichkeit berücksichtigen muss. Ein spezielles Forschungsprojekt unseres Centers beschäftigt sich beispielsweise mit der Analyse von alten 2D-Zeichnungen, die noch manuell erstellt wurden und nicht in digitaler Form vorliegen. Ziel ist es, automatisiert zu ermitteln, ob ein in solchen Zeichnungen dargestelltes Bauteil für den 3D-Druck geeignet ist. Dabei geht es nicht nur um eine technische Bewertung, sondern auch um rechtliche Fragen: Wer besitzt die Rechte an den Daten, wenn Zeichnungen für den 3D-Druck verwendet werden? Gehört das gedruckte Teil automatisch demjenigen, der die Daten zur Verfügung stellt, oder demjenigen, der druckt? Und wer hat letztlich die Rechte an den digitalen Vorlagen? Das sind komplexe Fragen, mit denen wir uns regelmäßig beschäftigen.

An welchen großen Zukunftsthemen forschen Sie derzeit am Center für Nachhaltige Produktion und Logistik?

Riester: Zwei Schlüsselbereiche stehen im Mittelpunkt unserer strategischen Initiativen: Positive Impact Production und Shared Logistics. Positive Impact Production zielt darauf ab, Produktionsprozesse so zu gestalten, dass sie unter dem Strich einen positiven Beitrag zur Umweltbilanz leisten, statt diese zu belasten. Unter diesem Dach werden verschiedene Zukunftsthemen bearbeitet, insbesondere im Bereich Energieeffizienz und Energiemanagement. Ein aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich beispielsweise mit der Optimierung des Energieverbrauchs in einem Industriepark mit energieintensiven Branchen. Die Herausforderung besteht darin, den Energiebedarf dieser Industrien zu stabilisieren und die Nutzung erneuerbarer Energien effektiv zu integrieren, um Schwankungen im Energieangebot auszugleichen. Dazu gehören auch unternehmensübergreifende Lösungen zur Anpassung der Produktionsplanung an die verfügbare Energie sowie Initiativen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, um den damit verbundenen Aufwand für die Unternehmen zu reduzieren. Der zweite Schwerpunkt, Shared Logistics, fördert die kollaborative Nutzung logistischer Ressourcen wie LKW, Bahn und die Kombination von Personen- und Güterverkehr. Ein herausragendes Projekt in diesem Bereich ist "Öffi-Packerl", das untersucht, wie Privatpersonen Pakete im öffentlichen Verkehr transportieren können. Dieser Ansatz erstreckt sich auch auf die gemeinsame Nutzung von Daten zwischen Unternehmen, um Produktivitätssteigerungen zu erzielen. Derzeit existieren viele isolierte Datensilos, deren Qualität für weiterführende Anwendungen oft nicht ausreicht und die daher angereichert werden müssen.

Wie sieht die Zukunft der Ersatzteilversorgung aus?

Ersatzteile sind über den gesamten Erdball verteilt. Das ist und war lange Zeit gängige Praxis, um Reaktionszeiten so kurz wie möglich zu halten. Doch Störungen in den Lieferketten haben gezeigt, wie risikobehaftet die globale Distribution sein kann. Welche Ersatzteile sollen wo auf Lager gelegt werden? Die aktuelle Situation rollt diese grundlegende Frage ganz neu auf – und inspiriert zu neuen Lösungsansätzen.

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Den Rahmen dazu bietet die alljährliche Ersatzteiltagung, die das Magazin FACTORY gemeinsam mit Fraunhofer Austria organisiert.

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