Kommentar : Sicherheit in der Produktion: Standard, Routine oder Grenzgang?

„Wir müssen sicher produzieren“! So oder ähnlich sind die Statements, fast mehrfach täglich durch unsere Unternehmen hallen. Ist Ihnen dieser Satz so oder in ähnlicher Form schon öfter untergekommen? Es wirkt fast wie ein abgedroschener Slogan aus einer mittelmäßigen Werbeschaltung im Radio. Für die meisten Personen aus der Produktion und dem produktionsnahem Umfeld gilt er als selbstverständlich. Und doch kommt der Leitspruch immer und immer wieder von Führungskräften. Verschärfend kommt hinzu, dass die Interessen von Abteilungen unterschiedlicher nicht sein können. Ein Klassiker: die Produktion möchte durchgehend sicher produzieren, wohingegen die Instandhaltung die Anlagen in sicheren verfügbaren Zustand bringen möchte. Beide wollen sicher arbeiten, doch jeder mit einer jeweils anderen Sichtweise.

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Zwischen Safety-Konzepten und Alltagspraxis

Nehmen wir ein Beispiel aus der Praxis. Stellen Sie sich ein mittelständisches Produktionsunternehmen vor mit tollen, erfolgreichen Produkten und einer fast rund um die Uhr laufenden Produktion. Modernste Anlagen und ein sehr hoher Automatisierungsgrad gewähren eine qualitativ hochwertige Herstellung von Produkten. Dazu kommt ein erfahrener Personalstamm, der sehr gut ausbildet und bestmöglich geschult ist. Wenn wir diese Angaben wie ein Rezept lesen, dann sind das alles gute Zutaten, um hier sicher – und ich meine absolut sicher – zu produzieren. Dennoch seien Sie bitte ehrlich zu sich selbst und stellen Sie sich die Frage: „Würde ich das Rezept so unterschreiben?“ Können Sie sich wirklich darauf verlassen, dass hier zu hundert Prozent eine sichere Arbeitsweise vorliegt?

Viele Unternehmen gehen im alltäglichen Trott mit dem Satz – wir müssen sicher produzieren – zu locker bzw. zu oberflächlich um. Gefahren lauern überall, insbesondere wo die Einflussgröße Mensch hinzukommt. Den Bereich oder die Anlage in Punkto Sicherheit zu automatisieren könnte ein Kinderspiel sein. Wenn da nicht der Mensch wäre. Trotz aller Unterweisungen, Hinweise und mehrerer Jahre Routine reicht ein versehentlicher Knopfdruck, ein unaufmerksames Wischen am Touchscreen – und schon sind wir in einem vielleicht manuellen Produktionsbetrieb. Sind wir da noch sicher unterwegs? Können wir uns darauf blind verlassen und gewährleisten, dass trotz dieser Missgeschicke alles wie gewohnt sicher abläuft? Gibt es mehr Störgrößen als gedacht? Vorhin sprachen wir doch noch von hundert Prozent sicher produzieren.

Michael Aichinger
Michael Aichinger arbeitet beim Faserhersteller Evonik Fibres. Dort verantwortet er die technische Leitung der produzierenden Standorte in Lenzing und Schörfling. - © Evonik
Viele Unternehmen gehen im alltäglichen Trott mit der Sicherheit zu locker bzw. zu oberflächlich um.

Weiter produzieren um den Preis der Sicherheit?

Noch plakativer finde ich folgendes Praxisbeispiel aus einem mittelständischen Produktionsunternehmen. Die Auftragsbücher sind voll, die Anlagen an ihrer Kapazitätsgrenze und liefern eine zielgenaue Qualität. Die Maschinenverfügbarkeit liegt bei annähernd 95 Prozent, was aus Kennzahlen- und Unternehmenssicht gewaltig ist. Genau so wäre der Idealzustand einer laufenden Produktion, nicht nur für den Produktionsleiter, sondern für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Plötzlich, in der bisher herrschenden Komfortzone, macht sich ein Lager einer Rührwerkswelle eines Reaktors lautstark bemerkbar. Das Quietschen und Kreischen der Wellenlagerung ist in der gesamten Produktionshalle zu hören. Der Bereichsverantwortliche meldet die Störung vorbildhaft in das vorgesehene Auftragssystem und informiert damit automatisiert die Instandhaltung. Alsbald kommt der Hinweis aus der Technik-Abteilung: „Mit hoher Wahrscheinlichkeit Lagerschaden. Wir bitten um Zeitfenster, das Ersatzteil ist vorrätig. Arbeitsaufwand rund vier Stunden“. Gleich darauf meint der Planer: „Ich stimme das mit der Produktionsleitung ab. Ein vorzeitiges Abstellen kommt nicht in Frage.“ Fast im selben Atemzug kommt die verschärfte und unmissverständliche Rückmeldung aus der Produktionsleitung: „Nicht abstellen! Wir sind mit den Produktionsmengen auf einem erfolgreichen Weg, es wird weiter produziert!“ So, und hier beende ich die Auflistung weiterer Wortmeldungen. Denn eines ist klar: Die Anlage hat sich letztendlich in einen ungeplanten längeren Stillstand verabschiedet.

Mögliche Störfaktoren

Mich persönlich beschäftigt in diesem zweiten Fall nicht das Endergebnis, denn da gibt es natürlich verschiedenste Wege und unterschiedlichste Interessen. Eher möchte ich den Fokus darauf lenken, wie sicher die Produktion vom Auftreten und Melden des Problems, bis zum endgültigen Ausfall des Reaktors produziert hat. In dieser Zwischenzeit können weitere Störgrößen erschwerenden Einfluss auf das nun ohnehin schon defekte Lager nehmen. Lagertemperatur, chemisches Umfeld, Zündgrenzen vom verarbeitenden Medium, Feststecken des Rührwerks, bis hin zur mechanischen Zerstörung von Komponenten des Rührwerks samt Antrieb. Die Palette ist an möglichen Störfaktoren ist vielfältig. Letztlich ist es die unglückliche Kombination aus defektem Lager samt erhöhter Temperatur und einer zufällig auftretenden Störgröße. So und nun erinnern wir uns mit Bedacht an den Anfangsslogan zurück und haben ein gutes Gewissen bei dem Thema „sicher produzieren“, oder was meinen Sie?