Im Gespräch: Elisa Roth : Zwischen Wissen und Maschine

Augmented Industries

Dr. Elisa Roth ist Mitgründerin und CEO von Augmented Industries. Sie promovierte an der University of Cambridge zu KI-gestützten Assistenzsystemen in der Industrie. Während eines Fellowships beim Weltwirtschaftsforum brachte sie das Thema auf die globale Agenda. Sie wurde vom Wirtschaftsmagazin Forbes in die "30 Under 30 Europe"-Liste für den Bereich Industrie & Fertigung aufgenommen.

- © Augmented Industries

Im Fokus Ihrer Arbeit steht die „menschenzentrierte Produktion“. ESG und Nachhaltigkeit scheinen durch die negative wirtschaftliche Entwicklung in den Hintergrund geraten zu sein. Täuscht der Eindruck?

Elisa Roth: Ich glaube, wir müssen hier immer zwischen globalen Zukunftstrends – der großen Richtung – und den kurz- sowie langfristigen Realitäten unterscheiden. Kurzfristig sehen wir natürlich, dass das unternehmerische 'Feuerlöschen' wieder im Vordergrund steht: Wie müssen Produktionsnetzwerke im Rahmen der aktuellen Debatten neu aufgestellt werden? Trotzdem bleibt das Thema demografischer Wandel in Europa eine globale Entwicklung, die nicht verschwindet. Der Fokus darauf, wie wir mit weniger Menschen mehr erreichen, wird also bleiben. Und damit bleibt auch die Menschzentrierung wichtig, selbst wenn man als Unternehmer vielleicht nicht sofort darin investiert.

Warum bleibt das vielleicht weiterhin wichtig? 

Roth: In der Diskussion über die Automatisierung sehen wir, dass administrative Aufgaben deutlich schneller automatisiert werden als die manuelle Arbeit in der Produktion und Instandhaltung. Der Mensch bleibt daher vorerst der wichtigste Faktor, insbesondere in der Instandhaltung und im Service, da hier eine höhere Komplexitätsebene besteht. Das Thema Menschzentrierung ergibt sich quasi von selbst, wenn ich erkenne, dass Wissen und schnelle, agile Handlungsfähigkeit meine wertvollste Ressource sind. Die Frage bleibt jedoch, wie ich die Menschen befähigen kann, dieses Potenzial voll auszuschöpfen. Als Unternehmerin wäre es mir natürlich auch recht, wenn die Menschen mehr arbeiten würden. Aber ich muss gleichzeitig sicherstellen, dass ich langfristig Arbeitsplätze schaffe, damit die Mitarbeiter nicht alle mit Mitte 40 ins Büro kommen und der Betrieb nicht mehr funktioniert. Die gute Nachricht ist, dass hochqualifizierte Mitarbeiter in Wartung und Service die letzten Jobs sind, die automatisiert werden, weil sie so komplex sind. Die schlechte Nachricht ist jedoch, dass Wissensmanagement, Qualifizierung und Recruiting nach wie vor mit hohen Kosten und Risiken verbunden sind, vor allem, wenn ich die richtigen Mitarbeiter nicht finde. 

Wir müssen in der Lage sein, alle Mitarbeiter zu erreichen – unabhängig von ihrer Branche, sei es Logistik, Instandhaltung oder Produktion.

Mit Ihrem Unternehmen haben Sie sich zunächst mit Exoskeletten und HMI-Lösungen beschäftigt, bevor Sie sich auf KI-gestützte Schulungen in der Industrie spezialisiert haben. Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Roth: Ich habe mich intensiv mit dem gesamten Portfolio an Lösungen auseinandergesetzt, die uns zur Verfügung stehen, um die Menschen bestmöglich bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Dazu zählen natürlich Technologien wie Exoskelette, Datenbrillen, Virtual Reality und Augmented Reality. Doch bei der Betrachtung der Unternehmen und des aktuellen Stands – sowohl hardware-seitig als auch hinsichtlich der tatsächlichen Bedürfnisse – haben wir schnell festgestellt, dass der Schlüssel nicht nur in der Hardware liegt. Augmented und Virtual Reality haben häufig nicht die Erwartungen erfüllt; sie waren zu komplex und zu instabil, um in jeder Werkstatt zuverlässig eingesetzt zu werden. Daher haben wir überlegt, wie wir bestehendes Wissen – etwa Arbeitsanweisungen, Maschinenhandbücher und alles, was bereits dokumentiert ist – mit Hilfe von KI auf Knopfdruck in interaktive Kurzschulungen umwandeln können. So entsteht eine hochwertige Schulung, die auch von jemandem ohne Erfahrung in der Erstellung von Trainings schnell genutzt werden kann und sich flexibel an veränderte Prozesse anpasst. Das wichtigste Fazit aus unserer Arbeit: Skalierbarkeit. Wir müssen in der Lage sein, alle Mitarbeiter zu erreichen – unabhängig von ihrer Branche, sei es Logistik, Instandhaltung oder Produktion. Gleichzeitig müssen wir flexibel bleiben, um uns schnell an die sich ständig ändernden Prozesse anzupassen.

Sie haben den Fachkräftemangel angesprochen, und das ist in der Tat ein riesiges Thema. Genau hier kommen Sie ins Spiel. Ihre Kunden laden ihre Arbeitsanweisungen auf der Plattform hoch, und darauf basierend werden mit KI automatisch Schulungen erstellt. Vielleicht können wir das Schritt für Schritt durchgehen.

Roth: Wie Sie richtig gesagt haben, ist ein Kernmodul die KI-generierte Aufbereitung von bestehendem Material. Wenn ich eine Arbeitsanweisung habe, kann ich entscheiden, ob ich alles schulen muss oder ob ich den Fokus auf bestimmte Themen lege. Ich kann der KI sagen, sie soll den Fokus auf spezifische Punkte setzen oder das Training stark zusammenfassen, wenn es sich um ein kurzes Auffrischungstraining handelt. Alternativ kann ich auch anfordern, dass das Training sehr interaktiv und schrittweise aufgebaut wird, besonders wenn es um das Onboarding neuer Azubis geht. Die KI hilft mir, das Wissen je nach Anwendungsfall so aufzubereiten, dass es genau auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten ist. Wir vergleichen das manchmal mit Duolingo für Produktion und Instandhaltung – wie eine Sprachlern-App, nur dass wir komplexe technische Tätigkeiten vermitteln. Doch die KI-generierte Erstellung von Trainings ist nur eines der Module, um das Ganze in die Breite zu bringen. Wir haben auch festgestellt, dass der gesamte End-to-End-Prozess der Qualifikation ebenfalls Automatisierung erfordert, da in die Verwaltung und das Management viele Ressourcen fließen. Mittlerweile können wir vom identifizierten Schulungsbedarf, sei es aus einem Ticketsystem oder einer bevorstehenden Linienverlagerung, automatisch die passenden Dokumente und Prozessschritte zuordnen. Die KI erstellt dann automatisch die Kurse, stellt sie in einen Lernpfad zusammen und weist sie automatisiert zu. Zusätzlich kann ein Skillcheck integriert werden. Die KI generiert ein Quiz, das zeigt, wo die Mitarbeiter in ihrer Qualifikation stehen. Wenn ein Mitarbeiter in diesem Test schlecht abschneidet, muss er möglicherweise alle Trainings absolvieren, während ein anderer vielleicht nur wenige machen muss. Das Ganze lässt sich vollständig automatisieren. Am Ende sorgt ein Audit-Feature dafür, dass der Teamleiter oder Supervisor in der Produktion überprüft, ob die Person tatsächlich die notwendigen Fähigkeiten besitzt. In unserem Tool wird dies dann ausgelöst und Zertifikate können automatisch erstellt werden – ein wertvoller Nachweis für die Karrierelaufbahn des Mitarbeiters. Zusätzlich kann der Teamleiter oder Betriebsleiter in der Qualifikationsmatrix sehen, wer welche Skills hat. So kann er schnell herausfinden, wer für bestimmte Aufgaben, wie das Wechseln eines Filters an der Anlage, bereits geschult ist. Das vereinfacht die Arbeitseinsatzplanung und optimiert den Ressourceneinsatz.

Kurz noch zum Thema Didaktik: Arbeiten Sie mit Pädagogen oder Psychologen im Hintergrund, und welche Philosophie steckt hinter den Schulungen?

Roth: Mein Co-Gründer und ich haben uns intensiv damit beschäftigt, wie wir die Bedürfnisse der operativen Exzellenz mit den Erkenntnissen aus der Lernpsychologie verbinden können. Es gibt verschiedene didaktische und Instruktionsprinzipien, die wir der KI als Vorlagen mitgeben können. Zum Beispiel können wir der KI sagen, sie soll kontextualisieren, warum dieses Training für eine bestimmte Rolle wichtig ist – ob aus Sicherheitsgründen, zur Qualitätsverbesserung oder für die Kundenreputation. Wir sorgen auch für Abwechslung im Training, indem wir Drag-and-Drop-Übungen, Multiple-Choice-Fragen und Swipe-Interaktionen kombinieren, um Langeweile zu vermeiden. Ein weiteres didaktisches Prinzip ist die Einbindung von Reflexionsfragen, wie „Was kannst du heute tun, um diesen Prozessschritt zu verbessern?“. Darüber hinaus setzen wir auf kognitive Aktivierung, indem wir interaktive Elemente und eine automatisierte Lernzielkontrolle einbauen. Viele dieser Prinzipien, wie auch der Einsatz von Wiederholungsalgorithmen, stammen aus der Lernpsychologie und haben sich bewährt. Wir wissen, dass Menschen etwas fünf bis sieben Mal hören müssen, um es zu verinnerlichen. Das lässt sich in unserem Tool konfigurieren, sodass das Wissen langfristig gespeichert wird.

Augmented Industries ist ein Softwareunternehmen, das eine KI-Plattform für produzierende Unternehmen anbietet. Die KI wandelt bestehende Dokumente (z.B. Arbeitsanweisungen, Handbücher) in interaktive, mobile Schulungseinheiten ("Microlearnings") um. Ziel ist es, Mitarbeiter direkt im Arbeitsfluss zu qualifizieren, die Wissenslücke durch den Fachkräftemangel zu schließen, die Produktivität zu steigern und Kosten zu senken. Das Unternehmen legt großen Wert auf Datensicherheit und Compliance (ISO 27001 zertifiziert) und zählt Konzerne wie Siemens, BMW und Ford zu seinen Kunden.

Instandhaltungstage 2025: Ein Muss für Fach- und Führungskräfte

Elisa Roth wird zum Thema KI-generierte Schulungen in der Industrie einen Vortrag im Rahmen der Instandhaltungstage 2025 halten. Die Veranstaltung bietet an drei Tagen ein abwechslungsreiches Programm, das intensive Fachtrainings, spannende Vorträge, Workshops und Diskussionen umfasst. Zudem präsentieren ausgewählte Aussteller Produkt- und Dienstleistungsinnovationen, die zur Effizienzsteigerung in der Instandhaltung beitragen. 

Vom 3. bis 5. Juni verwandelt sich das Wyndham Grand Salzburg Conference Centre in den Hotspot für Innovationen und strategischen Austausch rund um Instandhaltung und Asset Management.

Alle weiteren Informationen und Anmeldung: Instandhaltungstage 2025

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Und wie sieht es im Bereich HMI aus? Sie haben sich ja auch mit Projektionen beschäftigt. Es gibt die klassischen Augmented-Reality-Anwendungen – lässt sich das alles miteinander verbinden?

Roth: Stand jetzt laufen wir in allen browserfähigen Geräten, Handys, Tablets, Desktop-PCs, tatsächlich auch Maschinen-Terminals, wenn sie ans Netz angeschlossen werden dürften. Augmented-Projektions-Kapazität haben wir gerade noch nicht, einfach weil der Mehrwert noch nicht so groß ist. Aber wir sehen schon, dass voraussichtlich nächstes Jahr unser Interface dann auch nochmal über Augmented Reality oder auch durch Brillen, Datenbrillen unterstützt werden kann.

Wer sind denn Ihre typischen Kunden? Ich nehme an, es sind eher größere Unternehmen mit eigenen Fachabteilungen und weniger KMUs, oder?

Roth: Tatsächlich, ja. Wir kommen aus dem Enterprise-Bereich und haben von Anfang an stark in Compliance investiert. Die großen Unternehmen sind natürlich bereit, für Premium-Lösungen zu zahlen. Zu unseren Kunden gehören daher bekannte Namen wie Siemens, BMW und Ford. Aber auch aus dem Zuliefererbereich und dem Instandhaltungs-Industrial Service haben wir erste mittelständische Kunden Darüber hinaus haben wir Partner, die unsere Lösung intern nutzen und diese dann an ihre Kunden weiterlizenzieren, indem sie ihr eigenes Wissen einpflegen und so ihre Kunden schulen. Das ist ein klassischer Service-Case.

Sobald die Mitarbeiter merken, dass das System auch ihren eigenen Arbeitsalltag erleichtern kann, steigt die Akzeptanz.

Sie bewegen sich ja in einem sehr sensiblen Umfeld, wenn es um Wissensmanagement geht. Es gibt sicherlich auch eine gewisse Skepsis bei den Mitarbeitern, ihr Wissen der KI zur Verfügung zu stellen, da dies potenziell ihre eigene Rolle in Frage stellen könnte. Erkennen Sie diese Skepsis?

Roth: Die Skepsis tritt vor allem dann auf, wenn die Menschen den Mehrwert nicht sofort erkennen. Häufig kommt es zu wiederkehrenden Problemen, die nicht ausreichend dokumentiert werden, was frustriert. Sobald die Mitarbeiter jedoch merken, dass das System auch ihren eigenen Arbeitsalltag erleichtern kann, steigt die Akzeptanz. Ein weiterer Faktor ist, dass Mitarbeiter, die bald in den Ruhestand gehen, offener dafür sind, ihr Wissen zu dokumentieren. Sie haben nicht mehr die Angst, durch Wissensweitergabe ihre eigene Position zu gefährden. Stattdessen wird ihr Wissen als wertvoll erachtet, um die Business-Kontinuität zu sichern. In solchen Fällen entsteht eine andere Art der Wertschätzung – es geht darum, das Unternehmen zu unterstützen, nicht darum, das Wissen zu erfassen und den Mitarbeiter daraufhin zu entlassen. Außerdem sehen wir, dass uns in Bereichen wie Instandhaltung und Service aufgrund des Fachkräftemangels die Jobs zunächst nicht ausgehen werden. Anders sieht es in der Serienfertigung aus, wo Automatisierung zunehmend die Prozesse übernimmt.

Große Skepsis herrscht aber auch gegenüber dem Hochladen von sensiblen Unternehmensdaten in Clouds. Wie begegnen Sie dieser Skepsis?

Roth: Ja, die Skepsis ist berechtigt, und wir nehmen sie sehr ernst. Deshalb haben wir uns stark auf Compliance konzentriert. Es ist entscheidend, dass Unternehmen die Kontrolle über ihr geistiges Eigentum und Prozesswissen behalten. Daher bieten wir auch On-Prem- oder Private-Cloud-Lösungen an, die genauso sicher – wenn nicht sogar sicherer – sind als die eigene Cloud. In Bezug auf europäische Souveränität sehe ich jedoch zunehmend einen Mehrwert darin, unabhängig von den großen Anbietern zu bleiben. Es geht nicht mehr nur um Sicherheit, sondern auch um Business-Kontinuität. Unternehmen möchten sich gegen unvorhersehbare Risiken absichern. Das ist ein Aspekt, den ich vor ein, zwei Jahren noch nicht so stark betont hätte. Aber heute habe ich mehr Verständnis dafür, dass Unternehmen in dieser Hinsicht vorsichtiger werden.

Im Rahmen Ihres Vortrags bei den Instandhaltungstagen werden Sie  darauf eingehen, wie man Lernerfolge anhand bestimmter KPIs messen kann. Wie genau funktioniert das?

Roth: Wir haben verschiedene Ansätze zur Messung des Lernerfolgs. Der einfachste ist die Lernzielkontrolle: Ich vergleiche den Stand der Person vor und nach dem Training, indem ich einen Skillcheck mache. So kann ich den Wissensbehalt, also die sogenannte Knowledge Retention, messen. Spannend wird es jedoch, wenn wir das Wissen aus einer Business-Perspektive betrachten und auf die Anwendung im Arbeitsalltag übertragen. Hier integrieren wir beispielsweise Manufacturing Execution Systems oder Qualitätsmanagement-Systeme. Wenn etwa eine Reklamation vom Kunden kommt, weil der gleiche Fehler erneut aufgetreten ist, können wir das Training automatisch den betroffenen Mitarbeitern zuweisen. Auch wenn es eine Weile dauert, bis sich das auswirkt, verkürzt sich so der kontinuierliche Verbesserungszyklus erheblich. Ein weiterer Aspekt sind KPIs und Kostensenkungen – gerade in der aktuellen Zeit ein zentrales Thema. Mit kurzen Training Nuggets müssen die Mitarbeiter nicht mehr regelmäßig für Schulungen aus dem Arbeitsprozess herausgenommen werden. So können wir im Arbeitsalltag schulen. Bei Siemens zum Beispiel haben wir etwa 62% der Kosten eingespart, im Vergleich zu traditionellen Klassenraum-Schulungen. Natürlich ersetzen wir nicht alles durch digitale Schulungen, aber wir können 60 bis 70% der Wissensvermittlung digital abdecken, sodass Trainer sich auf die Anwendungsschulungen konzentrieren können. Zudem können wir externe Agenturen, die für bestimmte Trainings sehr hohe Kosten verursachen, ersetzen und so direkte Einsparungen erzielen.