Ein wankender Industriegigant : Die Hintergründe der Aufsplitterung von Thyssenkrupp

Tiefgreifende Veränderungen: Thyssenkrupp wird in Finanzholding umgebaut.
- © nmann77 - stock.adobe.comNach der Verselbstständigung der Sparten Stahl und Marineschiffbau will der Industriekonzern Thyssenkrupp auch die übrigen drei Geschäftsfelder eigenständig aufstellen. Bislang fehlte ein übergreifendes Strukturkonzept, um die verbleibenden Geschäftsbereiche werthaltig zu positionieren. Der breit diversifizierte Industrieverbund, der Aktivitäten von der Autozulieferung bis zum Materialhandel umfasste, litt unter komplexen Konzernstrukturen und verlangsamten Entscheidungsprozessen, was sich negativ auf die Profitabilität auswirkte.
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Neben den bekannten Maßnahmen in der Stahlsparte und der Marinewerft Thyssenkrupp Marine Systems solle der Werkstoffhandel an die Börse gebracht und damit dessen Abschied vorbereitet werden, berichten Insider. Konzernchef Miguel López hatte bei der Vorlage von Quartalszahlen Mitte Mai allerdings noch gesagt, dass die Sparte Material Services "Kerngeschäft" sei und bleibe. Er wies damit einen Bericht zurück, wonach der Konzern Alternativen für das Geschäft wie eine Abspaltung erwäge.

Im September fällt die Entscheidung
Den neuen Insiderberichten zufolge soll zudem ein Teil der Autozulieferer-Sparte geschlossen oder verkauft werden. "Nur ein Rumpf bleibt im besten Fall", wurde ein Manager zitiert. Die Pläne müssten noch vom Aufsichtsrat gebilligt werden. "Größere Widerstände sind nicht zu erwarten - es sollte also so durchgehen", berichteten die Quellen. Der Konzern habe mitgeteilt, dass es immer wieder Veränderungen gebe. Eine Veränderung bei der Handelstochter sei nicht ausgeschlossen, habe ein Sprecher gesagt.
Mit dem Umbau einhergehen soll eine Verlängerung des Vorstandsvertrags von Lopez. Auf seiner Sitzung am 16. September werde der Aufsichtsrat den Kontrakt verlängern, heißt es in hochrangigen Konzernkreisen.
Kriselndes Stahlgeschäft in Europa
Die deutsche Stahlindustrie befindet sich seit Jahren in einer tiefen Krise. Billige Importe aus China haben heimische Hersteller unter erheblichen Preisdruck gesetzt, während die Umstellung auf klimafreundliche Produktionsverfahren – etwa Wasserstoffstähle – mit hohen Investitionskosten verbunden ist. Hinzu kommen explodierende Energiepreise, die allein bei Thyssenkrupp und anderen großen Produzenten die Produktionskosten deutlich ansteigen ließen. Infolge dieser Entwicklungen sank die heimische Stahlnachfrage 2024 um knapp sieben Prozent und erreichte mit etwa 26 Millionen Tonnen ein historisches Tief.
Auf kontinentaler Ebene kämpft die Branche mit globaler Überkapazität und protektionistischen Maßnahmen: Während China weiterhin große Mengen billigen Stahls exportiert, erschweren hohe US-Importzölle in Höhe von 25 Prozent auf Autos und Autoteile den Zugang zum wichtigsten Auslandsmarkt Stahlpreise . Die EU-Kommission hat daraufhin ihre Schutzmaßnahmen verschärft, indem sie das zollfreie Kontingent von einem auf nur noch 0,1 Prozent des Einfuhrvolumens reduzierte – ein Notfallinstrument, das 2019 erstmals eingeführt und nun erneut angepasst wurde, um der Branche eine Atempause zu verschaffen und grünen Stahlexporten mehr Raum zu geben Vertretung in Deutschland .
Die konkreten Pläne von Thyssenkrupp
Kern der geplanten Maßnahme ist die Transformation des operativen Konzerns in eine Finanzholding mit deutlich reduzierter Zentralverwaltung. Die Mitarbeiterzahl in der Konzernzentrale solle von rund 500 auf lediglich 100 sinken, während in der Verwaltung etwa 1.000 Stellen wegfallen sollen. Unter der neuen Holding werden die Sparten Automotive Technology, Materials Services und Decarbon Technologies als eigenständige, mehrheitlich börsennotierte Gesellschaften geführt. Diese strukturelle Neuausrichtung erfordert noch die Zustimmung des Aufsichtsrats.
Mit dem Umbau will Thyssenkrupp vor allem den spezifischen Wertbeitrag jeder Einheit transparenter machen und so neue Investoren gewinnen. Eine Finanzholding kann leichter Minderheitsbeteiligungen zulassen oder komplette Verkäufe realisieren, ohne dass das Kerngeschäft darunter leidet. Zugleich verspricht sich die Konzernführung um CEO López, mit einer schlanken Verwaltung Kapital freizusetzen und es gezielt in Wachstumsfelder wie Wasserstofftechnologien und Elektromobilität zu lenken.

Ringen um Zukunftstechnologien
Steht die Aufsichtsratssitzung im September im Zeichen der Zustimmung, würde Thyssenkrupp endgültig das klassische Industriekonglomerat hinter sich lassen und als reine Finanzholding agieren. Der Konzern würde dann als Portfolio-Manager seiner Einheitengesellschaften fungieren, was ihn fit machen könnte für das Ringen um Zukunftstechnologien – sofern die operativen Töchter ihrer Rolle als selbstständige Wachstumsmotoren gerecht werden. Es ist jedenfalls ein tiefer Einschnitt in der langen Geschichte des deutschen Industriegiganten.
Die bewegte Geschichte von Thyssenkrupp
Die Wurzeln von Thyssenkrupp reichen bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück: Im Jahr 1811 gründete Friedrich Krupp eine Gießerei in Essen. Dank technischer Innovationen avancierte das Unternehmen zum führenden deutschen Stahlproduzenten. Parallel dazu legte August Thyssen 1867 in Mülheim den Grundstein für sein Hüttenwerk, das er zu einem integrierten Stahl- und Kohlekonzern ausbaute.
Im Jahr 1999 schlossen sich die Thyssen AG und die Friedrich Krupp AG Hoesch-Krupp zur Thyssenkrupp AG zusammen, einem der größten europäischen Industriekonglomerate, das in den Bereichen Stahl, Aufzüge und Marine-Systeme tätig ist. In den 2000er-Jahren begann eine Phase der Portfoliokonsolidierung: Sektoren wie Aufzüge wurden ausgegliedert und verkauft, während das Management Investitionen in Dekarbonisierungstechnologien und strategische Partnerschaften – etwa mit dem Investor Daniel Křetínský – vorantrieb.
Angesichts finanzieller Belastungen durch billige Importe, steigende Energiepreise und hohe Umweltauflagen steht Thyssenkrupp heute erneut vor tiefgreifenden Veränderungen.
