Industrie 4.0 : IIoT und Connected Worker: Der Mensch im Mittelpunkt der Vernetzung

Connected Worker sind organisatorisch, prozessual und technologisch mit der gesamten Umgebung vernetzt.

Connected Worker sind organisatorisch, prozessual und technologisch mit der gesamten Umgebung vernetzt.

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Eigentlich könnten Unternehmen in nachfragestarken Industriebereichen mehr produzieren, doch dafür fehlen Mitarbeitende. Etwa zwei Millionen Stellen sind laut der deutschen Industrie- und Handelskammer derzeit unbesetzt. Das entspricht einem Wertschöpfungspotenzial von knapp 50 Milliarden Euro. Folgekosten des Fachkräftemangels, wie beispielsweise das Ausscheiden erfahrener Mitarbeiter oder entgangene Innovationen, sind in dieser Summe noch gar nicht enthalten. 

Die wichtigste Stellschraube zur Verringerung des Fachkräftemangels wäre dem Institut der deutschen Wirtschaft zufolge mehr qualifizierte Zuwanderung. Doch es gibt auch digitale Lösungen im Shopfloor und in der Administration: Prozesse effizienter zu machen und die Produktivität und Qualität zu steigern. 

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Industrie 4.0 für effizientere Abläufe

Beides lässt sich durch Ansatz der Industrie 4.0 erreichen. Durch die Vernetzung von Produktionsmaschinen mit übergeordneten Informationssystemen können sämtliche Produktionsbeteiligte, Anlagen, Systeme und vor allem Mitarbeiter miteinander kommunizieren und interagieren. Prozessrelevante Informationen lassen sich so in Echtzeit erfassen und austauschen, wodurch Abläufe entlang der gesamten Wertschöpfungskette effizienter gestaltet werden können. 

Aufträge, Anweisungen und Checklisten auf Papier, Datenerfassung per Hand, oft in Tabellenform, und Problemlösungen auf Zuruf – trotz vorhandener IT-Systemlandschaft immer noch weit verbreitet – gehören damit der Vergangenheit an. In diesem Zuge verändert sich auch die Arbeitsweise für Bediener, Linienverantwortliche und Servicemitarbeiter. Ihre Rolle entwickelt sich immer stärker zum Connected Worker, der organisatorisch, prozessual und technologisch mit der gesamten Umgebung vernetzt ist.

IoT und Prozessmanagement verbinden

Ein klassisches Beispiel aus dem Produktionsalltag: An einer Anlage tritt ein Fehler auf. Ein Prozesssteuerungssystem erkennt einen Fehler und zeigt diesen an. Neu sind dann die automatisierte Auslösung und Erstellung eines konkreten Arbeitsauftrags sowie die Zuweisung an einen geeigneten und verfügbaren Mitarbeiter. Dabei ist es unerheblich, wo sich der Maschinenbediener, Wartungs- oder Servicemitarbeiter gerade aufhält – innerhalb der Produktionshalle oder am Schreibtisch. Er wird mittels haptischer, akustischer oder visueller Signale auf mobilen Endgeräten benachrichtigt. Dazu gehören Smartphones, Tablets, und um bei Inspektion und Wartung die Hände frei zu haben, Smartwatches oder Smart Glasses. 

Auch die Anleitungen mit relevanten Dokumentationen und Workflows erhält er in Echtzeit direkt auf das mobile Gerät. Nicht nur in Form komplexer Schaltpläne und Handbücher, sondern als interaktive 3D-Modelle, welche die reale Arbeitsumgebung überlagern können. Ein virtueller Assistent leitet ihn über Augmented Reality durch die einzelnen Arbeitsschritte, verfolgt das Geschehen mit und protokolliert die Ergebnisse per Bild, Video oder in Text umgewandelte Sprachnotizen. Alle Arbeitsschritte sowie Auffälligkeiten und Abweichungen werden unmittelbar zentral und revisionssicher dokumentiert und stehen somit für Auswertungen und Optimierungen zur Verfügung. So geht keine Information verloren.

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Software als Wissensdatenbank

Ein weiteres Beispiel: Kann die Schichtübergabe nicht persönlich stattfinden, erfolgt die Übergabe vollumfänglich digital, ohne dass ein direkter Austausch notwendig ist. Tritt in der Folgeschicht der Fehler erneut auf, können die Kollegen auf den aktuellen Stand und das Vorwissen zurückgreifen und schneller und korrekter handeln. Die Software fungiert damit auch als wertvolle Wissensdatenbank. Kommen Mitarbeiter doch einmal an ihre Grenzen, können sie Rückfragen per KI basierten Chat stellen oder per Video remote Experten aus anderen Standorten oder dem Hersteller der Maschine hinzuziehen.

Falls ein Mitarbeiter eine angenommene Aufgabe nicht bearbeiten kann, kann die Aufgabe eigenständig wieder für alle zuvor festgelegten Mitarbeitergruppen neu vergeben werden. Bereits abgeschlossene Prozesse können nachträglich analysiert und Engpässe sichtbar gemacht werden. Beispielsweise hinsichtlich durchschnittlicher Bearbeitungszeiten der jeweiligen Arbeitsaufträge und -abfolgen, von der Annahme des Auftrags bis zur Rückmeldung seiner Beendigung. Daraus bekommt die Prozessplanung und -steuerung genauere Informationen und damit eine bessere Transparenz bezüglich firmeninterner Produktionsprozesse und -aufgaben. KI kann aus den Informationen und Zahlen verlässliche Erkenntnisse gewinnen und Algorithmen bestimmte Muster erkennen, um Optimierungen vorzunehmen.

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Reduzierte Zeiten für Reparatur, Wartung, Inspektion und Training

Mitarbeiter werden durch die Entwicklung zum Connected Worker zunehmend von der Recherche in Handbüchern, administrativen Aufgaben, der Planung von Arbeitsschritten und vor allem der Dokumentation entlastet und können sich so auf wertschöpfendere Tätigkeiten konzentrieren beziehungsweise mehr Aufgaben abarbeiten. Je komplexer die Aufgabe ist, desto höher ist die Produktivitätssteigerung. Außerdem sinkt der Aufwand für die Einarbeitung, Risiken werden reduziert und die Fehlerquote verbessert sich. Zudem können Kollegen vor Ort durch Expertenwissen aus der Ferne unterstützt und somit flexibler eingesetzt werden. Hierdurch werden Stillstandszeiten reduziert, die Qualität verbessert und somit insgesamt die Produktivität gesteigert.

Verbunden mit Virtual Reality, Augmented Reality und KI unterstützen solche Systeme aber auch die praxisorientierte Wissensvermittlung. Neue Mitarbeiter, Vertretungen oder Mitarbeiter, die in bestimmten Bereichen nicht ausreichend geschult sind, lernen in immersiven Trainings auch während des Arbeitens dazu. Zum Beispiel lernen sie bestimmte Funktionsweisen von Maschinen kennen und wie die dazugehörigen Vorschriften einzuhalten sind. Über diese Trainings-on-the-Job vertiefen sie berufsspezifische Kenntnisse und werden befähigt, komplexere Aufgaben zu übernehmen. Da die Trainings in realitätsnahen, aber simulierten Umgebungen stattfinden, können Mitarbeiter sicher und kontrolliert Erfahrungen sammeln.

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Intelligent Enterprise als Basis

Die Implementierung des Connected Worker macht allerdings nur dann Sinn, wenn die Basis gelegt ist. Das IT-Unternehmen Nagarro nennt das Intelligent Enterprise. Der Begriff steht für ein datengesteuertes, vernetztes, voneinander abhängiges und unendliches Ökosystem. Es ist so designed, dass es eine nahtlose Kommunikation zwischen Maschine und Mensch ermöglicht und alle Komponenten in der Fabrikhalle optimal koordiniert und synchronisiert sind. Einmal geschaffen, lassen sich in diesem Ökosystem schrittweise hunderte Use Cases entwickeln: Von einem digitalen Zwilling über die Simulation und das Optimieren bis hin zum Prototypen und dem gewünschten Resultat. Das spart Zeit und Geld – und führt auch über die Pilotphase hinaus wirklich zur Umsetzung.

Die Kerntechnologien der Industrie 4.0 – IIoT, Cloud, digitale Zwillingen / Simulation und KI – liefern eine Art digitale Pipeline aus Echtzeitdaten. Hieraus können die Anwendungen für eine Smarter Factory, Connected Worker, Connected Customer und Connected Product zur Verfügung gestellt werden.

Diese Anwendungen ermöglichen einen umfassenden Überblick über industrielle Prozesse und haben einen großen strategischen Wert. Wesentlich dabei ist, das gesamte System nicht nur um einzelne Technologien oder Projekte herum zu bauen, sondern ‚End-to-End‘ anzulegen. Außerdem müssen die Daten natürlich so aufbereitet werden, dass man sie versteht.

Alles dreht sich um Daten

Das bedeutet, Unternehmen brauchen qualitative Daten, die über die gesamte industrielle Wertschöpfungskette hinweg erhoben und zentral zusammengeführt werden. Erst dann ist es möglich, Use Cases auf Enterprise Level zu skalieren. Oftmals sind die Daten aber im Unternehmen verteilt. In der Regel befindet sich ein Großteil der Daten im Shopfloor und 30 bis 40 Prozent in Enterprise-Systemen wie dem ERP-System. Das führt zu Silos und das Potenzial der (Roh-)Daten wird bei Weitem nicht ausgeschöpft. IIoT generierte Daten müssen normalisiert, strukturiert, kontextualisiert und analysiert werden. Dann entstehen Informationen, die für Trends, Vorhersagen und Empfehlungen genutzt werden können. Im nächsten Schritt ermöglichen intelligente Technologien automatisierte Vorgänge und weitreichende Interpretationen.

Bei der Wahl einer Connected Worker-Plattform empfiehlt es sich, eine flexible Lösung einzuführen, die On-Premise funktioniert, aber auch als Software-as-a-Service betrieben werden kann. Vor allem sollte sie einfach und kostengünstig mit anderen Systemen zu integrieren sein. Sie sollte zudem End-to-End ausgerichtet sein und den kompletten Process Lifecycle abdecken. Diese Lösung kann innerhalb kürzester Zeit in einer Basisfunktionalität in den Bereichen Reparatur und Wartung, Inspektion und Qualität, Montage, Logistik und Schulung ausgerollt werden und wird basierend auf Evaluierungsworkshops entlang des jeweiligen geschäftlichen Anwendungsfalls entsprechend erweitert und angepasst.

Autoren

Dirk Gröner, Associated Director Industry and Automation mit Schwerpunkt auf IIoT und KI

Christian Wurhofer, Geschäftsbereichsleiter Business Development IoT und IIoT, Nagarro