Maschinenbau : Reverse Engineering: Wie die Voestalpine mit Nachkonstruktion Prozesse optimiert

„Wenn ich von einem Ersatzteil keinerlei Informationen, keine Dokumentation oder Aufzeichnungen habe, dann bin ich gezwungen, diese immer wieder beim Erstlieferanten zu kaufen. Dadurch bin ich ihm ausgeliefert, was die die Terminsituation, die Kosten und auch die Verfügbarkeit angeht.“
- © Pixabay„Der Sinn von Reverse Engineering ist es, Prozesse zu verbessern und Verschleiß oder Ersatzteile kostenoptimiert beschaffen zu können“, erklärt Reinhold Lauß. Er hat von 1984 bis 1988 in der voestalpine eine Lehre zum Maschinenschlosser absolviert und später die Abendschule Maschinenbau-HTL absolviert. Nun ist er im Linzer Stahlkonzern seit bald 34 Jahren in der Instandhaltung und im Anlagen-Engineering für das Warm- und Kaltwalzwerk tätig. 2017 hat er in der Abteilung TSI - Investitionen und Engineering die Prozessverantwortung für das Anlagenengineering übernommen. Vor zweieinhalb Jahren hat er mit Kollegen ein Pilotprojekt zum Thema Reverse Engineering gestartet. Daraus ist ein gleichnamiges Kompetenznetzwerk entstanden. Lauß ist darin nicht nur für die Konstruktion zuständig, sondern auch Sprecher des Kompetenznetzwerks Reverse Engineering. In dessen Rahmen treffen sich sieben Kollegen aus verschiedenen Abteilungen alle 14 Tage zu einem Netzwerk-Meeting. Dort besprechen sie die neuesten Anfragen und die Fortschritte in den bestehenden Projekten.
Einer davon ist Vermessungsspezialist Christian Haider. Er ist seit 2002 in der voestalpine Stahl GmbH beschäftigt und hat dort 2016 die Leitung des Fachbereichs für Sensorik, Klima-, und Brandmeldetechnik in der zentralen elektrotechnischen Instandhaltung übernommen, wo auch die 3D Vermessung angesiedelt ist. Er erklärt, wodurch die Initiative innerhalb der voestalpine angestoßen wurde: „Die Instandhaltung und die Anlagentechnik stehen immer im Zwiespalt zwischen Kosten, Qualität und Termintreue. Daher wollten wir uns als Dienstleister auch in Richtung Digitalisierung und Industrie 4.0 agiler aufstellen“. Mit Reverse Engineering soll diesem Anspruch nachgekommen werden.

Wie funktioniert Reverse Engineering?
Ein wichtiger Prozessschritt beim Reverse Engineering ist die 3D-Vermessung des betreffenden Bauteils. Diese kann, aber muss nicht zu Beginn des Prozesses stehen. Es gibt auch Projekte, bei denen der Schwerpunkt beispielsweise in der Werkstoffanalyse liegt. „Wir versuchen gerade in einem Projekt mit Kohlefaserplatten, für diese Bauteile selbst das Material herzustellen. Da geht es sehr stark in die Materialentwicklung“, erklärt Haider. Das Team um Lauß und Haider erhebt also Daten, macht Werkstoffanalysen, konstruiert das Teil digital und prüft dann die Einsatzgebiete in den Anlagen. Im besten Fall können sie das Bauteil schließlich nicht nur nachbauen, sondern auch verbessern. Den größten Anteil der Aufgaben übernimmt die Konstruktion, weil dort die Dokumente erstellt werden. „Sollte es mit dem Protoypen auf Anhieb perfekt funktionieren, dann haben wir es gut gemacht. Wenn nicht, inspizieren wir die Teile erneut und arbeiten Verbesserungsvorschläge aus. So entwickeln wir das Produkt ständig weiter“, erklärt Lauß.
Was Reverse Engineering von „normalem“ Engineering unterscheidet, ist die Ausgangssituation. Nämlich, dass Dokumentationen über die Geometrie oder den Werkstoff eines Bauteils nicht vorhanden sind. „Bauteile zu verbessern, langlebiger und standfester zu machen – das ist normales Anlagen-Engineering“, spezifiziert Christian Haider. Dabei beschränkt er sich mit seinen 3D-Vermessungen nicht rein auf Bauteile. Es werden auch Gebäude-Scans für die Kollisionsprüfung von Einplanungen durchgeführt. Etwa dann, wenn der Umbau einer Halle ansteht, über die keine Information mehr vorhanden sind. „Der/die Konstrukteurin kann dieses Layout dann wiederverwenden und weiterarbeiten.“ Um Bauteile zukünftig noch exakter und rascher vermessen zu können, wurde extra ein handgeführtes Lasermessystem angeschafft, mit dem Toleranzen von 25 bis 50 Mikrometer erreicht werden können.

Wann lohnt sich Reverse Engineering?
Doch wann ist es sinnvoll einen Reverse Engineering Prozess zu starten? Vorab wird im Kompetenznetzwerk immer abgeschätzt, ob es sich wirtschaftlich lohnt, ein Bauteil selbst herzustellen. „Es muss in Summe immer ein wesentliches Einsparungspotenzial vorhanden sein“, fasst Reinhold Lauß zusammen. Wenn das gegeben ist, erfolgt der Projektstart. „Mit dem Thema Reverse Engineering befasse ich mich schon seit einigen Jahren.“, meint er. Darunter könne man sich folgendes vorstellen: „Wenn ich von einem Ersatzteil keinerlei Informationen, keine Dokumentation oder Aufzeichnungen habe, dann bin ich gezwungen, diese immer wieder beim Erstlieferanten zu kaufen. Dadurch bin ich ihm ausgeliefert, was die Terminsituation, die Kosten und auch die Verfügbarkeit angeht“. Durch das Erfassen der Bauteilgeometrie, die Analyse des Werkstoffes, das Nachbauen und möglicherweise auch Optimieren des Teils macht sich der Anwender unabhängiger vom OEM. Das kann besonders in einer Zeit der Ressourcenknappheit und Störungen in den Lieferketten den Druck von Anlagenbetreibern nehmen.
Zunächst war Reverse Engineering rein für interne Zwecke gedacht. Doch nun geht die voestalpine mit dem Service auch auf den externen Markt. Hier kommen dann zusätzliche rechtliche Herausforderungen auf das Kompetenznetzwerk zu: „Ein wesentlicher Faktor im Prozess Reverse Engineering ist auch der Patentschutz von bestimmten Bauteilen, das muss natürlich im Vorfeld geprüft werden“. Von einer Anfrage kann er bereits jetzt berichten: „Vor kurzem hat sich eine Firma bei uns gemeldet, die einen Zylinder für eine 600 Tonnenpresse reverse engineert haben möchte, für den sie keine Dokumente haben. Das schauen wir uns jetzt an“. Spätestens nach der Instandhaltungskonferenz im September rechnet Lauß Reinhold mit weiteren externen Anfragen.