Leonhard Muigg : Wie die Digitalisierung eine hybride Industrie schafft

Leonhard Muigg
© Siemens / Nitsche

In vielen Vertriebsorganisationen gibt es eine scharfe Trennung zwischen diskreter Industrie und Prozessindustrie. Bei Ersterer geht es vereinfacht gesagt um die Herstellung zählbarer Fabrikate, während bei Letztere eine Verfahrenstechnik auf Basis von Rezepturen im Mittelpunkt steht. Viele Produkte entstehen jedoch bereits in „hybriden Industriebetrieben“, also in einer Mischform. Auch ganz traditionell gefertigte Erzeugnisse wie Ziegel entstehen in Unternehmen, die zu Beginn einen verfahrenstechnischen Produktionsbereich haben und in der weiteren Wertschöpfungskette in eine klassische diskrete Verarbeitung übergehen. Die Trennung war also vielleicht noch beim Automatisieren von Anlagen sinnvoll, weil verfahrenstechnische Auslegungen sehr stark an Prozess-Know-how geknüpft sind. Bei der digitalen Transformation beginnen sich diese Barrieren aber aufzulösen.

Trennung verschwimmt immer mehr

Digitale Transformation ist kein reines IT-Thema, sondern erfordert auch Anpassungen in der Strategie und Organisation. Einen Beweis dafür liefert die holistische Betrachtung von Digitalisierungspotenzialen über die gesamte Wertschöpfungskette. In beiden Industrien gibt es einen sehr hohen Deckungsgrad der möglichen Anwendungsfälle – lediglich die Prozesse sind unterschiedlich. Die Anforderungen für Standardisierung und in den Datenmodellen sind sehr ähnlich. Hier gewinnt aber nicht nur die „Hybridindustrie“ allein an Bedeutung. Umweltbestimmungen, Nachweispflichten oder kombinierte Fertigungsverfahren sind Faktoren, dass die Trennung zwischen diskreter und verfahrenstechnischer Industrie immer mehr verschwimmt. Wenn man die Digitalisierung nur auf Use-Cases aufbaut, fällt diese Verschmelzung nicht so ins Gewicht. Will man aber die Optimierung der Produktentwicklungs- und Fertigungsprozesse ganzheitlich betrachten, dann muss man diese Grenzen zwischen den verschiedenen Industrien früher in die Überlegungen einbeziehen.

Interdisziplinäre Teams

Auch bei der Produktgestaltung wird es immer wichtiger, „smarte Materialen“ für „smartere Produkte“ zu verwenden, zum Beispiel speicherfähige Farbstoffe oder spezielle Oberflächenbehandlungen. In der Autoindustrie gibt es bereits Konzeptstudien, wie sich der Lack der Umgebung anpassen lässt – also Signalfarben bei Nebel oder dunklere Farben bei Schnee etc. Es wird an „intelligenten“ Fasern gearbeitet und mit biegsamen Bildschirmen für Mobiltelefone experimentiert. Das Spannende: Genau aus diesem Grund müssen wir Experten aus den verschiedenen Bereichen vernetzen, um Technologie, IT und Geschäftsmodelle so zu verbinden, dass das Potenzial aus der gesamten Wertschöpfungskette genutzt und optimiert werden kann.

Die Facetten der Simulation

Für die Automatisierungs- und Digitalisierungsanbieter bringt das eine komplett neue Herausforderung – nämlich, dass die Synchronisation der Spezialisten aus den Bereichen diskreter und verfahrenstechnischer Industrie zur Optimierung in „Hybridindustrielösungen“ resultiert. Ein Hindernis klingt dabei banal – es geht darum, dieselbe Sprache zu sprechen und nicht aneinander vorbeizureden. Es klingt ziemlich einfach, aber bringt man Experten aus der Produktplanung, der Fertigung und der IT an einen Tisch, dann haben oft dieselben „Vokabel“ verschiedenste Bedeutungen. Ein solcher Begriff ist Simulation. Ein Produktentwickler versteht darunter Festigkeits- oder Strömungssimulation. Ein Logistiker meint Materialflusssimulation. Der Fertigungsplaner sieht Ergonomiesimulation, NC-Code-Simulation oder Auslastungssimulation. Ein IT-Techniker hat für diesen Begriff vielleicht mathematische Algorithmen. Deshalb kann ich hier nur den Siemens-Slogan wiederholen: „Digitalisierung verändert alles – Produkte, Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle“.