Experteninterview : Werkzeugmaschine 4.0: Wie das KIT den virtuellen Zwilling erschaffen will

KIT Hannover Messe Standdoku Dokumentation
© M. Breig / KIT

Spätestens mit Industrie 4.0 zieht die Digitalisierung auch in die Werkzeugmaschine ein. Schon werden Steuerungen diskutiert, die sich in der Cloud befinden. Big Data-Analysen gieren nach immer mehr Daten aus dem Zerspanungsprozess. Entwickelt sich die Werkzeugmaschine zum PC mit Spindel, entscheidet die Software über Erfolg oder Misserfolg einer Maschine? Antworten darauf wird die kommende AMB Internationale Ausstellung für Metallbearbeitung vom 13. bis 17. September in Stuttgart liefern. Eine Einschätzung liefert Professorin Jivka Ovtcharova vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Die Diplom-Ingenieurin mit zweifacher Promotion in Maschinenbau und Informatik leitet das Institut für Informationsmanagement im Ingenieurwesen (IMI).

Frau Professor Ovtcharova, werden wir in Stuttgart auf der AMB Werkzeugmaschinen sehen oder Computer mit Spindeln?

In der zerspanenden Fertigung wird es in naher Zukunft genauso aussehen wie in vielen anderen Industrie-4.0-Branchen. Mittels eines virtuellen Abbildes wird es möglich sein, operationale Konzepte der Wertschöpfung einer Werkzeugmaschine in Echtzeit zu validieren. Ein Beispiel ist die manuelle und automatische Bedienung sowie die Konfiguration der Werkzeugmaschine über intuitive Mensch-Maschinen-Schnittstellen wie Web-Oberflächen oder haptische Interaktionsgeräte. Eine umfassende Simulation der tatsächlichen Bewegung der Werkzeugmaschine wird es ermöglichen, das virtuelle 3D-Werkzeugmaschinenmodell über die Software der Steuerung auszuführen. Weiterhin wird es möglich sein, eine abschließende Validierung vor der Bearbeitung durchzuführen, was den Zeitaufwand für die Probedurchläufe auf der realen Werkzeugmaschine enorm verkürzt.

Mit welchen Auswirkungen auf Produktivität und Wirtschaftlichkeit?

Eine Wertschöpfung wird nur dann erreicht, wenn ganzheitlich die Prozesse mit all ihren Daten berücksichtigt werden. Hierzu werden Daten wie Energiedaten, Störungsmeldungen oder Werkzeugdaten aus der Maschine benötigt. Hinzu kommen Daten aus der Logistik und technische Informationen wie Schnittdaten etc. Das Verschmelzen realer Maschinen und virtueller Abbildungen ermöglicht eine Annäherung an die Vision der automatisierten, vernetzten virtuellen Inbetriebnahme eines ganzen Betriebes.

In Halle 4 präsentieren sich während der AMB Anbieter von Software & Engineering. Welche Aufgaben kommen speziell auf die Softwareentwicklung für Industrie-4.0-fähige Werkzeugmaschinen zu?

In der zerspanenden Fertigung ist das IT-Systemnetzwerk das Herzstück einer Industrie-4.0-Lösung. Orchestriert wird dieses Netzwerk durch das Tool Lifeycle Management als Interplayer an der Schnittstelle zwischen Planung und realer Fertigungswelt. Dadurch können sowohl die in der Planung als auch in der Fertigung anfallenden Daten erfasst und für eine Analyse zugänglich gemacht werden. Die Prozesse werden kontinuierlich, quasi „in the loop“, verbessert. Offene Programmierschnittstellen (APIs), mit denen Drittentwickler auf die Möglichkeiten von Webservices zugreifen können, sind eine treibende Kraft im Industrie 4.0-Umfeld. Die vergleichsweise geringe Begeisterung in der Fertigungsindustrie für offene Schnittstellen führe ich auf datenschutzrechtliche und urheberrechtliche Bedenken zurück, die zwar verständlich, aber nicht mehr zeitgemäß sind. Offene Schnittstellen sind eine langfristige Investition, bei der kurzfristig eigenes Know-how kostenfrei abgegeben, langfristig dadurch jedoch eine enorme Erhöhung von Reichweite, Bekanntheit und Marktpotenzial erreicht wird.

DMG Mori (Stand 7A01) präsentiert mit Celos eine App-basierte Nutzeroberfläche. Welche Anforderungen an die Software ergeben sich aus solchen neuen Human Machine Interface (HMI)-Ansätzen?

Celos steht für App-basierte Nutzungsoberflächen, die so einfach und intuitiv bedienbar wie bei einem Smartphone sind. Insgesamt sind mobile Anwendungen innerhalb der Industrie 4.0 als HMI-Technologie gefragter denn je, denn einerseits bauen diese auf den bestehenden Erfahrungen im normalen Leben auf und setzen keine neuen Bildungsmaßnahmen voraus. Andererseits bieten Smart Devices aufgrund ihrer Verfügbarkeit und ihrer Leistungsfähigkeit neue Möglichkeiten für HMI-Lösungen. Für die Realisierung industrietauglicher Apps stehen verschiedene Ansätze zur Verfügung, die je nach Anwendungsszenario spezifisch einzusetzen sind. Die neueste Entwicklung zeigt jedoch, dass die Inhalte zunehmend von ihrer Erstellung und ihrem Ursprung entkoppelt werden, sie „atomisieren“ sich ebenso wie die Services. Was bedeutet dies für die Entwicklung teurer Apps? Werden sie auf lange Sicht verschwinden? Wieviel weitere Celos-Apps werden noch angeboten? Langfristig wird sich der Trend zur „Atomisierung“ ausweiten. Dienste werden sich um Nutzungsszenarien scharen, um den Menschen kontextsensitive und personalisierte Informationen anzubieten. Dadurch wird der Grad der intuitiven Bedienung auch im Industriekontext rapide steigen. Die Komplexität der Maschinen wird für die Menschen unsichtbar.

Wenn der gesamte Produktentstehungsprozess virtuell abgebildet wird, wie muss Software für die Fertigung aussehen?

Der Trend zum virtuellen Abbild im Kontext von Industrie 4.0 setzt eine funktionsfähige, interoperative Prozess- und IT-Systeminfrastruktur voraus. Das Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0 (RAMI 4.0) von VDI, VDE und ZVEI sorgt aktuell für Verortung von Normen, Standards, Use-Case-Inhalten und Beziehungen. Es bildet die Grundlage für Ableitung von Regeln für Industrie-4.0-Implementierungen. Die Industrie-4.0-Komponente im RAMI 4.0 ermöglicht die Kommunikation von realen Objekten in der Produktion mithilfe virtuell vernetzter Objekte und Prozesse. Als Enabler der bidirektionalen Assoziativität tritt das virtuelle Abbild auf. Dieses ist für die echtzeitfähige Handhabung und Ausführung von Prozessschritten über den gesamten Lebenszyklus zuständig.

Datensicherheit und Know-how-Schutz sind wichtige Themen der diesjährigen AMB. Was sind die wichtigsten Maßnahmen, um sich abzusichern?

Die beste Sicherheits-Software kann durch eine schwache Umsetzung bei den Kunden wirkungslos gemacht werden. Verschlüsselungstechnologien bringen nichts, wenn Anwender sie nicht nutzen. Mitarbeiter sind häufig die größte Schwachstelle in der Sicherheitsstrategie eines Unternehmens. Daher ist zu empfehlen, nicht nur in den Schutz des physischen Zugangs zu Servern und Netzwerk-Hardware im Unternehmen zu investieren, sondern auch in die Absicherung der Software und insbesondere in die Schulung der Mitarbeiter.