Meinung : Warum wir Industrie 4.0 nicht kaufen können

Industrie 4.0
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Industrie 4.0 kann man nicht kaufen. Dieser Satz bringt die Erwartungshaltungen aber eben auch die Enttäuschungen auf den Punkt. Ein Konzept, das den Einzug der Digitalisierung in die Fertigung, die integrale Vernetzung von Wertschöpfungsstufen und -partnern umfasst, kann nicht in einem Satz beschrieben werden. So stellvertretend die Bilanz von Birgit Vogel-Heuser, Professorin für Automatisierungstechnik an der TU München. Auch die aktuellen Ergebnisse von Industrie 4.0 Readiness und Einführung scheinen ernüchternd. Also nur Marketing-Geklüngel? Das nicht, aber ein differenzierter Blick lohnt sich.

Am Anfang war das Wort

Bevor der Begriff Industrie 4.0 zur Hannover Messe 2011 publik gemacht wurde, waren Digitalisierung, Internet of Things, Additive Manufacturing sehr wenig diskutierte Erscheinungen. Der Begriff ‚Industrie 4.0‘ hat entscheidend dazu beigetragen, dass die benannten Themenfelder plötzlich sowohl für politische Gremien, den Wirtschaftsjournalismus aber eben auch für viele produzierende Unternehmen zugänglich wurden. Zentral ist der Begriff ‚Industrie. Industrieproduktion ist eng mit Aufschwung und Wohlstand verbunden - also positiv. Die Ziffernfolge der Version ‚4.0‘suggeriert eine beruhigende Linearität. Nach 1.0 folgen weitere Schritte und nach 4.0 kommt sicher irgendwann 5.0 - also alles plan- und beherrschbar. Das disruptive Element wurde abgemildert. In der Folge verstieg man sich sogar in der Aussage, Industrie 4.0 beschreibe die vierte industrielle Revolution. Die erste ihrer Art, die nicht erst im Nachhinein beschrieben sondern im Voraus bestimmt worden wäre.

Die andere Seite der Medaille

Das Vertraute, das eine breite Diskussion in Unternehmen, Politik und Wirtschaftsjournalismus ermöglicht hatte, verleitet aber auch zum Verharren in bewährten Mustern. Digitalisierung von Produktion ist weit mehr als weitere Effizienzsteigerung, Kostenreduktion und Auslastung. Das was Robert Kremnitzer enttäuscht als Automatisierung 2.0 beschreibt, hängt damit zusammen, dass der Begriff Industrie 4.0 den Blick auf die Auswirkungen und Herausforderungen jenseits des Shopfloors verstellt. Ohne Frage hilft Vernetzung und Digitalisierung dabei, Ressourcen besser einsetzen und nutzen zu können. Natürlich entlasten Automatisierungsschritte die Belegschaft von schweren, gefährlichen oder routinemäßig wiederholenden Tätigkeiten. Aber das ist nicht das Wesentliche.

Digitalisierung verändert das Geschäft

Digitalisierung in der Produktion impliziert auch neue Geschäftsmodelle, in denen der Kunde und seine Probleme und Bedürfnisse weiter in den Mittelpunkt rücken. Neue Geschäftsmodelle erfordern damit neue Qualifikationen von Geschäftsführung und Belegschaft gleichermaßen. Die Vernetzung erlaubt Kunden, sich schnell umzuorientieren und das nicht nur auf regional begrenzten Märkten. Das erhöht die Dynamik in Märkten und erfordert andere Reaktionen von produzierenden Unternehmen. Neue Kooperationen, neue Wege des Austauschs werfen Fragen auf, die vom Schutz von Daten über gemeinsame Patente bis hin zu Fragen der Finanzierung von Projekten reichen. Gerade die etablierten Wege der Finanzierung von mittelständischen Unternehmen sind bislang kaum unter den Vorzeichen von Industrie 4.0 diskutiert. Der Robotikhersteller Kuka und der Werkzeugmaschinenhersteller Trumpf lassen sich mit Produktionsdaten „bezahlen“.

Zukunftsversprechen und Zukunftsaufgabe Industrie 4.0

Vor diesem Hintergrund müssen wir Industrie 4.0 nicht mehr als Zukunftsversprechen, sondern als Zukunftsaufgabe begreifen. Neue Technologiefelder und Innovationen brauchen einen Namen, der es erlaubt darüber zu diskutieren und sich auszutauschen. Auch wenn diesem keine exakte Definition zugrunde liegt, bringt die Diskussion mehr und mehr Konturen hervor, die das Technologiefeld greifbarer werden lassen. Trotzdem muss jetzt der Blick über den Tellerrand der effizienten Produktion gerichtet werden, um die gesellschaftsverändernden Dinge angehen zu können. Die Veränderung der Arbeit, neue Wege in der Finanzierung, neue Herausforderungen im Schutz geistigen Eigentums, neue Fähigkeiten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in allen Hierarchiestufen. Und: Ein Kulturwandel im Umgang mit Veränderung und Innovation. Die Frage nach Normen und Definitionen sollte nicht die erste sein, die man sich bei Innovationen stellt.