Supply Chain : Lieferketten: Die Lehren der Krise

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Die Hamsterkäufe von Klopapier dürften Psychoanalytiker mehr interessieren als Logistiker. Trotz der tagelang immer wieder leergefegten Regale war die Versorgung mit dem offensichtlich überlebenswichtigen Gut nie gefährdet – Produktion und Lieferketten hielten.

In manchen Bereichen der Industrie ist die Lage derzeit deutlich kritischer. Und zu den vielen Fragen, die im Gefolge der Pandemie plötzlich vor uns stehen, gehören auch: Wie resilient ist eigentlich unsere Produktions-Logistik? Und was kann aus dieser Ausnahmesituation gelernt werden?

Ist das wirklich der Testfall?

Andreas Breinbauer, Logistik-Professor und Rektor der FH des BFI Wien, verweist darauf, dass die aktuellen Herausforderungen extrem komplex und singulär sind. „Die Frage ist ja, ob die Covid-19-Krise tatsächlich ein treffender Testfall für die Resilienz ist“, gibt Breinbauer zu bedenken. Vor allem die Tatsache, dass es sowohl zu einem Angebots- als auch zu einem Nachfrageschock gekommen ist, hat zur Folge, dass die Politik den Primat über die Wirtschaft übernommen hat, „und zwar – leider vorwiegend – auf nationalstaatlicher Ebene. Das sind Rahmenbedingungen, die gegen eine funktionierende Lieferkette im Sinne einer unbeschränkt globalisierten Welt sprechen, was man ja auch hinterfragen kann – vor allem unter Nachhaltigkeitsaspekten.“

Robust ≠ Resilienz

Einen Schritt zurück macht Alexandra Birkmaier, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Logistiksysteme und Transport bei Fraunhofer Austria: „Resilienz“, sagt sie, wird oft mit „Robustheit“ verwechselt. Eine robusteWertschöpfungskette besitzt die Fähigkeit, Störungen standzuhalten, ihre Originalstruktur beizubehalten und trotz Unsicherheiten funktionsfähig zu bleiben. Eine resiliente Wertschöpfungskette hat die Fähigkeit, nach einer Störung schnell zu ihrem Originalzustand zurückkehren oder einen neuen und besseren Zustand zu erreichen. „Die derzeitige Krise ist aber so massiv, dass die Schwankungen nicht mehr durch Robustheit abgefedert werden können. Wir erleben weitgreifende Disruptionen der Wertschöpfungsnetze, die nur durch Resilienz bewältigt werden können.“

Lernen aus der singulären Krise

Doch wie können Unternehmen ihre Resilienz steigern? Gibt es unmittelbare Learnings aus der Pandemie? Franz Staberhofer, Professor an der FH Oberösterreich und Leiter des Logistikum in Steyr, empfiehlt einen Blick auf die Krise von 2008. Zwar sei es noch zu früh für die produzierende Industrie, konkrete Lehren aus der Krise zu ziehen, doch würden derzeit die Eckpfeiler von SCM (Supply Chain Management) überall implementiert – am Ende sehr oft auch die Funktion des Supply Chain Managers. „Die Unternehmen, die SCM schon eingeführt haben, haben es entsprechend leichter, die anderen müssen ähnliche Strukturen sehr rasch einführen, oder sie werden die kommende Volatilität schwer in den Griff bekommen“, warnt Staberhofer.

Abgesehen von der Unsicherheit, wie sich die Krise weiterentwickeln wird, erschweren zwei Faktoren die Erhöhung der Resilienz: die Kosten und die schiere Dimension der Krise. Die gesamte Wertschöpfungskette gegen jegliche Art von Störungen abzusichern, wird in der Forschung vorrangig auf strategischer Ebene vorgenommen. Auf der taktischen oder gar operativen Ebene, lassen sich kaum holistische Lösungen finden, da die Komplexität eine effiziente Lösung für das Gesamtsystem erschwert. „Es ist einfach unmöglich, Maßnahmenpläne für jede Art von Disruption auszuarbeiten“, sagt Alexandra Birkmaier.

Gänzlich hilflos ist die Industrie dennoch nicht. Birkmaier nennt erhöhte Transparenz, etwa durch Identifikation systemrelevanter Produkte sowie deren kritischer Pfade. Um die Reaktionszeit im Falle einer Störung zuverkürzen, hilft zudem eine verstärkte Kollaboration zwischen den Netzwerk-Partnern, inklusive verstärktem Daten-Austausch, sowie das Aufdecken und Eingrenzen ausgewählter Risiken. „Je weiter weg vom Endkunden Disruptionen angesiedelt sind, desto weitreichender sind ihre Auswirkungen.“ Daher sollten Unternehmen ein Bewusstsein dafür haben – oder sehr schnell entwickeln –, welchen Risiken sie sowohl Beschaffungs- als auch Absatzzeitig unterliegen. Und Strategien entwickeln, diese einzugrenzen.

„Ich kann mir allerdings vorstellen, dass manche Unternehmen bei der Berechnung von Sicherheitsbeständen in Zukunft anders handeln werden“, meint die Forscherin. Auch bei der Evaluierung von Lieferanten könnten Kriterien wie die geografische Nähe, die Stabilität der Beziehung oder die Priorität des eigenen Unternehmens beim Lieferanten künftig höheres Gewicht haben,

Abgesagte Renaissancen

Die Renaissance großer Lagerbestände sehen die Logistik-Experten übrigens nicht. Kurzfristig sei das denkbar, meint Andreas Breinbauer, langfristig allenfalls in Bereichen der medizinischen Produkte. Vor allem die hohen Kosten der Lagerhaltung begrenzen eine solche Renaissance. Und es gibt Bereiche, in denen sie ohnehin nicht möglich ist. Vor allem bei Komponenten mit hohem Wert und großem Volumen, wie etwa in der Automobilindustrie, sind große Lagerbestände nicht denkbar. Das gleiche gilt für Güter wie Lebensmittel, Chemikalien oder Gummi.

Auf einige Skepsis trifft auch das Konzept der Re-Regionalisierung. Angesichts der volkswirtschaftlichen und geopolitischen Dimension des Themas können Logistiker hier ohnehin nur bedingt Antworten liefern. Hinzu kommt die Unmöglichkeit, Sourcing- und Absatz-Märkte klar zu trennen: China zum Beispiel ist auch ein wichtiges Absatzland etwa für die europäische Automobilindustrie.

Franz Staberhofer bemerkt, dass das Virus derzeit zwar viele Menschen zu kurzfristig begeisterten Heimat-Romantikern macht, was aber am Einkauf auf globalen Plattformen nichts geändert habe. „Und auch so klar gesagt: Der Aufruf zum Abschotten ist nicht im Sinne unseres Wohlstandes.“ Stattdessen brauche es den Zugang zu einer echten Nachhaltigkeit bei den Produkten, bei den Services und im Wertschöpfungsnetzwerk. „Und das nicht romantisch, sondern radikal neu gedacht und rasch umgesetzt.“