Digitalisierung : Kings of the Roadmap

Traktionssysteme Austria TSA
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Wer bei Traktionssysteme Austria (TSA) arbeitet, muss damit rechnen, am Ende seiner Schicht eine simple Frage gestellt zu bekommen: War es ein guter Tag für dich? Das ist einerseits freundlich, zielt andererseits aber natürlich auf Faktizität ab. Und war die Antwort früher eher eine Einschätzung, so basiert sie heute auf einer Vielzahl von Daten, die den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Verfügung stehen – und die sie auch selbst laufend beeinflussen können.

TSA ist einer der weltweit größten Hersteller elektromechanischer Traktionsmotoren für Schienen- und Straßenfahrzeuge, und wer das Stammwerk in Wiener Neudorf besucht, wird nicht in erster Linie an Digitalisierung denken. Die Motoren, Getriebe, Antriebe und Generatoren, die hier von rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entworfen und gefertigt werden, entstehen unter Einsatz von viel manueller Tätigkeit. Die Produkte selbst könnten durchaus, etwa im Sinne von Predictive Maintenance, mit digitalen Elementen ausgestattet werden – bleiben mangels entsprechender Kundenwünsche aber offline.

Im Jahr 2016 begann das Unternehmen einen Weg zu beschreiten, der fast alles verändert hat. Gemeinsam mit den Experten von Fraunhofer Austria entstand damals die erste „Production Roadmap“, die seitdem – mittlerweile mit hauseigenem Know-how – alle zwei Jahre rollierend angepasst wird. Die Roadmap definiert pro Jahr und Quartal exakte Meilensteine in vier Bereichen.

Digitalisierung: Technologie trifft Kultur

Von „Industrie 4.0“ will Produktionsleiter Danijel Cvijanovic nicht sprechen: „Vernetzte Maschinen, die miteinander kommunizieren, sind nicht unser Ziel. Bei uns wird es immer auch Handarbeitsplätze geben.“ Ein zentrales Kriterium von i4.0 steht allerdings durchaus im Fokus der Digitalisierungs-Roadmap: die transparente und vernetzte Produktion in Echtzeit durch automatische Datengenerierung.

Und dafür sind mit SAP Lumira, OR-Soft, PLive, Grafana sowie der Linzer Qualitätssicherungs-Lösung Testify mittlerweile gleich mehrere Systeme im Einsatz. Das Ergebnis ist unter anderem ein detailliertes Produktions-Dashboard, das die Kennzahlen in Echtzeit zur Verfügung stellt – auch den Produktionsmitarbeitern, die somit sofort darauf reagieren können. Sämtliche Arbeitspapiere werden von den Mitarbeitern gescannt, womit eine permanente Übersicht über die Stückzahlen pro Arbeitsplatz möglich ist. „Wir wissen nun von jedem einzelnen Produkt, wo es sich befindet und wie lange es dort schon ist“, erzählt Danijel Cvijanovic. „Wir kennen die exakten Durchlaufzeiten in den einzelnen Fertigungsstraßen. Von so etwas haben wir vorher nicht einmal geträumt.“

Wie sehr Digitalisierung auch eine Frage der Unternehmenskultur ist, zeigt sich am Tracking des aktuellen Produktivitäts-Status der Mitarbeiter. Falsch kommuniziert, könne dies selbstverständlich als Überwachung verstanden werden, konzediert Markus Müller, Leiter Fertigungstechnologie und Lean Management. „Doch uns geht es darum, unseren Mitarbeitern ihre Tätigkeit zu erleichtern. Wer als unproduktiv angezeigt wird, wird also gefragt, wo das Problem ist und wie man helfen kann – um das Problem, das ja ganz woanders liegen kann – gemeinsam zu lösen.“

Wellen schlug der Ansatz natürlich auch bei den Arbeitern. „Als wir die ersten Auswertungen veröffentlicht haben, war das Feedback katastrophal, auch die Betriebsräte waren nicht amüsiert“, erzählt Geschäftsführer Günter Eichhübl. Nicht alle, aber doch die meisten hätten mit der Zeit allerdings ein Gefühl dafür entwickelt, dass die Messung der Performance nicht der Anprangerung, sondern der Motivation dient.

In einem nächsten Schritt sollen im Produktionsbereich Displays installiert werden, über die den Werkern künftig etwa die Reihenfolge-Planung, Arbeitsanweisungen, Zeichnungen oder Sicherheitsunterweisungen visualisiert werden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen im Optimalfall schon mit einem Blick die aktuelle Performance der Produktion in ihrem Bereich einschätzen können. Markus Müller betont, dass Digitalisierung niemals als Selbstzweck verstanden wird: „Damit allein löst man keine Prozessprobleme. Instabile Prozesse werden durch Digitalisierung nicht stabiler, nicht einmal transparenter.“

Lean Management: Bloß nicht top-down

Der zweite zentrale Bereich der Production Roadmap ist das Etablieren von Lean Management im Produktionsgeschehen. „Wir legen hier einen starken Fokus auf die Mitarbeiter“, sagt Markus Müller, „in der Produktion haben alle eine Lean-Management-Grundschulung erhalten, hinzu kommen 5S-Beauftragte mit Extraschulung. Lean Management soll ein fixer Bestandteil im Produktionsgeschehen sein.“ Auch dazu gibt es eine klare Roadmap und Kennzahlen, die den Fortschritt zeigen. Shopfloor-Audits und 5S-Audits sind über Testify digitalisiert. TSA arbeitet auch mit PDCAs, wobei die Verbesserungsvorschläge in der Produktion derzeit noch in Papierform erfolgen.

Dass das mit Digitalisierung und dem Lean-Gedanken verbundene Ziel einer selbstlernenden, effizienten und agil handelnden Organisation nicht bei allen auf Begeisterung stößt, hat auch Günter Eichhübl erlebt. Nicht alle sind den Weg mitgegangen, rund die Hälfte der Führungskräfte hat gewechselt. „Das Thema ‚Lean‘ ist zuallererst eines der Organisationsentwicklung“, sagt Eichhübl, „und tatsächlich ist etwa unser Organigramm in diesen vier Jahren immer flacher geworden. Der Ansatz, dass ‚von unten‘ nur Fragen kommen und ‚von oben‘ nur Antworten, funktioniert heute nicht mehr. Zumindest nicht in einer Organisation, in der ich arbeiten will.“

Die Transformation in Richtung mehr Verantwortung und Kompetenzen spiegelt sich nicht zuletzt in gewissen Begrifflichkeiten. So gibt es in Wiener Neudorf etwa statt Abteilungs- oder Gruppenleitern nur noch Teamleiter, und selbst der altehrwürdige „Meister“ wurde – sprachlich – aussortiert.

Wertstromdesign: Schritt für Schritt

Dem Ziel der gesamtheitlichen Umstellung von Werkstattfertigung auf taktorientierte Fertigung nähert sich TSA mit dem dritten Schwerpunkt der Roadmap an. „Wir führen eine sukzessive Umstellung des kompletten Werks durch“, erzählt Markus Müller, „und aufgrund unserer begrenzten Produktionsfläche ist das immer eine Operation am offenen Herzen.“ Begonnen hat der Prozess in der Rotor-Straße, die von Wochenplanung auf FIFO-Taktfertigung umgestellt wurde. Nun geschieht das gleiche sukzessive bei den weiteren Straßen, bis 2025 die Montage auf taktorientierte Inselfertigung umgestellt sein wird.

Für Danijel Cvijanovic geht es dabei um wesentlich mehr als die Anpassung der Produktionsprozesse selbst: Das Ziel ist, auch prognostizierte Fertigstellungstermine zu jeder einzelnen Baugruppe abgeben zu können. Somit könnte nicht nur der Planer sehen, was wann fertiggestellt sein wird, sondern auch die Mitarbeiter in der Produktion und im Vertrieb. „Und das“, sagt Cvijanovic, „ist in den zwölf Jahren, die ich im Unternehmen bin, eines meiner persönlichen Highlights.“

Innovation: Der Wert der Tradition

Im Vorjahr hat TSA eine neue Position geschaffen: Seit 2020 gibt es einen eigenen Innovationsmanager im Haus, der seinen Schreibtisch seitdem alle paar Monate (übrigens auf eigenen Wunsch) in einer anderen Abteilung aufstellt. Das interne Motto – „Innovation trifft auf Tradition und Kultur“ – sei fast ein Zielkonflikt, sagt Günter Eichhübl, „außer natürlich, man macht es richtig.“

Es richtig zu machen, das bedeutet für ihn vor allem, in Bereichen wie Automatisierung und Robotik nicht über das Ziel hinauszuschießen. Und so setzt TSA einzelne Schwerpunkte, wo es sinnvoll erscheint. Derzeit läuft etwa die Pilotphase für ein digitales Drehmoment-Schraubersystem. Noch heuer soll ein Schweißroboter angeschafft werden, und in Evaluation befinden sich roboterunterstütztes Eisreinigen und automatisiertes Einstaben. Gerade letzteres zeigt auch den Ansatz, Low Cost Automation einzusetzen, wo es ausreicht: Evaluiert wird hier ein relativ simples pneumatisches System.